Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
einen Besuch abzustatten und zu sehen, ob aus seinem Nachruf langsam etwas wurde.
*
Annika lag im Bett und starrte an die Decke. Ihr Körper fühlte sich bleischwer an.
Sie war von jeher mit der Fähigkeit gesegnet, immer und überall schlafen zu können, aber an diesem Morgen lag sie seit 4.18 Uhr wach. Ihr Redaktionshandy hatte geklingelt, es war der Redakteur von SVT s Frühstücksfernsehen, dem die Morgenausgabe des Abendblatts per Taxi direkt aus der Druckerei gebracht worden war. Er fragte an, ob sie bei ihm auf dem Morgensofa sitzen und sich über ihren entführten Gatten ausheulen wollte. (Okay, er hatte nicht »ausheulen« gesagt, aber er hatte es gemeint.) Eine Viertelstunde später rief TV 4 an, danach schaltete sie das Telefon aus.
Sie setzte sich im Bett auf und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war grau und das Wetter äußerst unentschieden.
Sämtliche schwedischen Medien würden heute bei ihr Sturm klingeln und versuchen, ein Interview mit ihr zu bekommen, am liebsten exklusiv für ihr Forum. Allein der Gedanke, heulend im Fernsehen zu sitzen oder vor einem Kollegen mit Notizblock und Diktiergerät ihr Innerstes nach außen zu kehren, erfüllte sie mit tiefem Unbehagen, ein Gefühl, das unlogisch war und voller Doppelmoral. Nach der Journalistenhochschule, drei Jahren bei der Lokalzeitung von Kathrineholm und dreizehn Jahren bei der Regenbogenpresse in Stockholm war es so etwas wie ein Dienstvergehen, sich nicht zur Verfügung zu halten. Hatte sie nicht selbst unzählige widerwillige Interviewopfer überredet (oder ehrlicher: bedroht oder betrogen)? Sie zogen vor ihrem inneren Auge vorüber: Überfallopfer, Frauenmörder, Politiker, die mit der falschen Russin Sexchats führten, gedopte Sportler, faule Polizisten, Bauherren, die Steuern hinterzogen – unzählige wachsame oder sogar ängstliche Augen in einem reißenden Strom.
Sie wollte, wollte, wollte nicht.
Wollte nicht mit einem Kind in jedem Arm dasitzen, das mit großen Augen seinen Papa vermisste. Wollte nicht vom Tag vor seiner Abfahrt erzählen (sie war sauer und kratzbürstig gewesen), wollte nicht das arme Frauchen sein, das alle bemitleideten. Die Kinder schliefen noch. Besser, sie blieben zu Hause, bevor sie ein übermotivierter Fotograf in der Schule abfing und versuchte, sie dazu zu bringen, vor der Kamera zu weinen.
Ich darf nicht, dachte sie. Darf nicht, darf nicht.
Schon jetzt konnte sie das Getuschel hinter ihrem Rücken hören: »Guck mal, das ist sie. Ihr Mann sitzt bei den Piraten in Somalia, und das sind bestimmt ihre Kinder. Die Armen, sind sie nicht ein bisschen blass?« Und dann würden die Tuscheltanten weitergehen und etwas besser gelaunt sein, denn egal, was ihnen heute noch passieren würde – das blieb ihnen erspart.
Dann schämte sie sich für ihre beispiellose Egozentrik und die himmelschreiende Unfähigkeit, sich nur auf ihre Notlage zu konzentrieren. Sie wollte es besser machen und schloss fest die Augen, die Schatten an der Decke verschwanden. Sie dachte an Afrika und Liboi und versuchte, Thomas’ Bild heraufzubeschwören, sich vorzustellen, wo er sich im Moment befand, wie es ihm ging, aber es gelang ihr nicht. Im Geiste flog sie über das verbrannt-gelbe Satellitenbild von Google Maps, aber sie hatte keine Bezugsgröße, hatte nichts, woran sie sich festhalten konnte. Sie hatte keine Ahnung.
In der nächsten Sekunde schreckte sie hoch, weil es klingelte. Verwirrt stieg sie aus dem Bett und schlang irgendwie den Bademantel um sich. Sie ging in den Flur und lauschte zaudernd an der Tür.
Vielleicht war es ein ambitionierter Reporter, der auf die Idee gekommen war, zu ihr nach Hause zu fahren und zu klingeln. Sie hätte es jedenfalls so gemacht.
Es war Halenius. Leicht hohläugig und ungekämmt betrat er den Flur. Sie zog den Bademantel fester um sich, fühlte sich nackt und beschämt und musste zudem unglaublich dringend aufs Klo.
Der Staatssekretär sah sie nur flüchtig an, schälte sich aus seinem Mantel, sagte »hübscher Schlafanzug« und verschwand mit seiner Aktentasche in ihrem ungelüfteten Schlafzimmer. Sie hörte ihn husten und rumoren. Die Situation war bizarr. Die Luft stand still, alles war ruhig. Als ob die ganze Welt in Wartestellung lauerte. Sie ging pinkeln, setzte Wasser auf und marschierte mit zwei Bechern Pulverkaffee zu Halenius. Einen für ihn, einen für sich. Er hatte seinen Laptop ausgepackt und klickte konzentriert auf dem Bildschirm.
»Wo sind die Kinder?«,
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