Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
sich umgezogen: rote Strickjacke und schwarze Jeans.
»Ich habe ja gesagt, dass Sie es sich noch überlegen können«, sagte er.
Sie wand sich auf dem Stuhl.
»Es kommt mir so schäbig vor, über die Sache öffentlich zu berichten«, sagte sie. »Als würde man sich nackt auf den Marktplatz stellen, damit die Leute was haben, worüber sie sich aufregen können.«
Er nickte und wartete. Wenn ihm jemand anderes gegenübergesessen hätte, ziemlich egal wer, hätte er diese Bemerkung als Eröffnung einer zähen Verhandlung über Betrag und Bedingungen aufgefasst. Aber Annika hatte selten etwas in der Hinterhand. Es lag ihr irgendwie nicht, sich zu verstellen und zu abstrakten Zielen durchzulavieren. In ihrer Arbeitsweise glich sie eher einem Panzer: mit voller Kraft drauflos, bis sich kein Widerstand mehr regt.
»Ich weiß noch nicht, ob ich das Geld brauche«, sagte sie. »Wie viel Zeit habe ich, um mich zu entscheiden?«
»Der Vorstand erwartet Ihre Entscheidung Montag früh«, erwiderte er.
Das entsprach nicht der Wahrheit. Er konnte mit dem Geld machen, was er wollte, er brauchte den Vorstand nicht einmal zu informieren.
Das Geld war im Budget eingeplant (als sonstige externe Kosten), und der Vorstand wusste von nichts. Vierzig Millionen Dollar hatte er allerdings nicht zur Verfügung. Die Obergrenze für derartige Ausgaben war auf drei Millionen Kronen festgelegt, das war der Maximalbetrag für verschiedene besonders sensationelle Exklusivstorys.
Annikas Blick war auf die aktuelle Ausgabe der Zeitung gefallen, die mit der Titelseite nach oben auf seinem Schreibtisch lag.
»Glauben Sie das Zeug da etwa selbst?«, fragte sie.
Er merkte, wie seine Laune ins Bodenlose sank.
»Annika …«
Sie zeigte auf das Foto von Linnea Sendman.
»Sie hat ihren Mann vier Mal wegen Misshandlung angezeigt, wussten Sie das? Zwei Mal hat sie Besuchsverbot beantragt, es aber nicht durchbekommen, war Ihnen das bekannt?«
»Vielleicht gibt es einen Grund, warum die Anzeigen eingestellt wurden«, sagte Schyman und hörte, wie gereizt er klang. Er wollte es nicht, aber aus irgendeinem Grund ließ er sich immer von Bengtzon provozieren. Jetzt war sie ganz an die Stuhlkante gerutscht, hatte sich über seinen Schreibtisch gelehnt und war richtig in Fahrt.
»Der Staatsanwalt hielt sie für eine hysterische Zicke, die lieber versuchen sollte, mit ihrem Mann auszukommen, als sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Also das Übliche, mit anderen Worten.«
»Und was, meinen Sie, hätten wir tun sollen? Wir können den Mann doch nicht für etwas anprangern, was wir nicht belegen können«, sagte Schyman und merkte, dass er sich aufs Glatteis begeben hatte. Und richtig, Annika Bengtzon verdrehte die Augen, wie sie es immer tat, wenn ihr nicht in den Kopf wollte, wie man nur so dumm sein konnte.
»Aber das abgestürzte Flugzeug wurde von Terroristen in die Luft gesprengt, ja?«, fragte sie.
Schyman erhob sich ärgerlich. Was hatte das mit seinem Angebot zu tun, ein Lösegeld für ihren entführten Mann zu zahlen?
»Wir schießen uns nicht auf Einzelpersonen ein, das wissen Sie«, sagte er.
Sie lehnte sich zurück.
»Haben Sie vor ein paar Jahren den Bericht von Europol über den Terrorismus in Europa gelesen?«
Er schloss für einen Moment die Augen und sammelte Kraft.
»Innerhalb eines Jahres wurden in Europa 498 Terroranschläge verübt«, fuhr sie fort. »Hunderte von Leuten wurden wegen des Verdachts festgenommen, an diversen Terrorakten beteiligt gewesen zu sein. Die Mehrheit von ihnen waren Muslime. Und wissen Sie, wie viele von diesen 498 Terroranschlägen auf das Konto von islamistischen Terroristen gingen?«
»Annika …«
»Einer.«
Er sah sie an.
»Einer?«
»Einer. Die anderen 497 Terroranschläge wurden vorwiegend von Separatisten verübt, von der ETA und den Idioten auf Korsika, von ein paar Kommunisten und dann noch von einer Reihe komplett Verrückter. Aber praktisch jedes Mal, wenn wir von Terroristen sprechen, meinen wir damit Muslime.«
»Das ist eine Sache, die …«
»Sehen Sie sich nur an, was nach der Bombe in Oslo und den Erschießungen auf Utøya passiert ist. Sogar in den ganz seriösen Morgenzeitungen hieß es, dass der internationale Terrorismus nun Norwegen erreicht habe und dass das alles kein Wunder sei. Wenn man sich in Afghanistan einmische, passiere eben so was.«
Schyman antwortete nicht, was hätte er auch sagen sollen?
»Wir verbreiten Mythen und Schrecken, die zum größten
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