Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
und drängte sich an ihm vorbei in die Küche. Ihr Oberarm berührte seine Brust.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass er hier bei ihr in der Wohnung war, dass er in ihrer Küche herumwerkelte und das Badezimmer benutzte, während sie sich im Café mit Anne traf, dass er in ihrem Schlafzimmer saß, während sie in der Redaktion war. Seine Anwesenheit war so spürbar, so als würde er Wärme ausstrahlen, beinahe wie ein Kamin.
»Ich weiß nicht, was Schyman bezahlt hat, als vor ein paar Monaten die Geliebte des Königs in der Zeitung ausgepackt hat«, sagte sie und nahm zwei Teller aus dem Oberschrank, ohne Halenius anzusehen, »aber das muss auch in der Größenordnung gewesen sein.«
Er stand immer noch da, an den Türrahmen gelehnt; sie spürte, wie er sie beobachtete, als sie den Tisch deckte.
»Glauben Sie, dass die Zeitung für Interviews bezahlt?«, fragte er.
Sie hielt inne und sah ihn an.
»Ich weiß es ja nicht mit Sicherheit«, sagte sie, »ich war zu der Zeit in Washington. Aber warum sollte sie es sonst getan haben?«
»Aufmerksamkeit?«, schlug er vor.
»Wenn sie darauf aus gewesen wäre, im Rampenlicht zu stehen, wäre sie wohl in allen Talkshows und Klatschblättern aufgetaucht, nicht nur im Abendblatt . Die Dame ist ja nicht blöd. Chicken Tandoori oder Korma-Lamm?«
Er beugte sich über die Aluschalen.
»Welches ist was?«
Sie glaubte nicht, dass sie etwas essen konnte, setzte sich aber trotzdem hin und kratzte ein bisschen von dem Huhn auf ihren Teller. Er nahm ihr gegenüber Platz, ihre Knie stießen unter dem Tisch aneinander.
»Sie hatten recht«, sagte er. »Thomas hat sich freiwillig für die Erkundungsreise nach Liboi gemeldet. Woher wussten Sie das?«
Sie kaute eine Weile auf dem Hähnchen herum, der Bissen wurde im Mund immer größer. Die Nachricht brachte sie nicht unbedingt aus der Fassung, sie hatte es sich schon gedacht.
»Thomas ist kein Naturbursche«, antwortete sie. »Er schätzt guten Wein und erstklassiges Essen. Es gibt nur drei Gründe, warum er so eine Fahrt mitmacht: Prestige, Zwang oder eine Frau.«
Prestige hatte Halenius schon im Ministerium ausgeschlossen, nun war auch der Zwang entfallen. Aus irgendeinem Grund schien diese Erkenntnis den Staatssekretär verlegen zu machen.
»Was ist?«, fragte sie und biss in ein Stück Naan-Brot.
Er schüttelte wortlos den Kopf.
Sie ließ das Brot sinken.
»Das ist doch nicht Ihre Schuld«, sagte sie. »Thomas ist nicht monogam. Ich denke, er versucht es, aber es klappt nicht.«
»Muss irgendwer Schuld haben?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln.
Plötzlich schrecklich müde, schüttelte sie den Kopf. Sie steckte den letzten Bissen Hähnchen in den Mund, wischte den Rest Reis mit dem Brot auf und erhob sich.
»Ich denke, ich lege mich eine Weile hin«, sagte sie.
Sie schlief in Kalles Bett. Als sie aufwachte, war es draußen dunkel, eine graue, mondlose Nacht ohne Sterne.
Ihr Kopf war bleischwer. Halenius saß im Schlafzimmer und sprach leise in sein Handy. Nur in T-Shirt und Slip schlich sie ins Bad und warf zwei Panodil ein, pinkelte, putzte sich die Zähne und hockte eine Weile auf dem Klo, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Als sie wieder herauskam, stand Halenius im Flur, mit zerwühlten Haaren und einem Becher Kaffee in der Hand.
»Kommen Sie«, sagte er. »Die Geiselnehmer haben ein neues Video online gestellt.«
»Thomas?«
»Nein. Der Typ mit dem Turban.«
Sie tappte ins Kinderzimmer, zog Jeans und Strickjacke an und folgte ihm barfuß. Er saß am Computer, auf dem Monitor war ein Standbild des Videos zu sehen.
»Die Nachricht über den Franzosen ist raus«, sagte Halenius. »Anscheinend haben die Entführer die Veröffentlichung abgewartet, denn gleich nach der Eilmeldung von AFP wurde dieses Video hochgeladen.«
Annika lehnte sich über Halenius’ Schulter. Das Bild zeigte den Mann in Militärkleidung und Turban, der schon im letzten Video zu sehen gewesen war, auch der dunkelrote Hintergrund und die übrige Umgebung schienen unverändert zu sein.
»Haben sie auch denselben Server benutzt?«, fragte Annika.
Der Staatssekretär fuhr sich übers Haar.
»Da fragen Sie den Falschen, ich kann mich ja kaum in meinen eigenen Rechner einloggen … Offenbar gibt es zwei, drei Internetprovider in Somalia, der größte heißt Telcom, aber dessen Server haben sie nicht benutzt, sondern den eines kleineren Providers … Wollen Sie es sehen?«
»Versteht man, was er sagt?«
»Der
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