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Anonym - Briefe der Lust

Anonym - Briefe der Lust

Titel: Anonym - Briefe der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Hart
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ungewöhnlich tief.
    Nun schaute er mich doch an, sah mir direkt in die Augen. Er verschlang seine Hände auf dem Schreibtisch noch fester miteinander, als wollte er etwas festhalten, etwas Kostbares, von dem er befürchtete, er könnte es fallen lassen. Ich schob mein Kinn vor und erwiderte seinen Blick.
    Schweigend löste er seine Hände voneinander und schob mir über die Schreibtischplatte einen Papierbogen zu. Wir schauten beide den Zettel nicht an, sondern sahen einander in die Augen.
    Auch als ich meine Fingerspitzen auf den Rand des Bogens legte, gönnte ich dem Blatt Papier keinen Blick, ebenso wenig, während ich es näher zu mir heranzog oder als ich es in die Hand nahm. Ich schaute den Zettel nicht an, bevor ich wieder an meinem Schreibtisch saß und ihn vor mir auf die Platte gelegt hatte.
    Die Liste.
    Ich saß an meinem Schreibtisch und sah auf die Liste hinunter. Sie war beleidigend lang und mit so vielen Erklärungen versehen, dass es mich wütend machte. Zweifellos war diese Liste schlimmer, als wenn er mich streng zurechtgewiesen hätte.
    Sie war auf eine Weise, die schwer zu erklären war, die weitaus bessere Form der Zurechtweisung.
    Auf dem Zettel waren nicht nur die besonderen Aufgaben aufgeführt, die ich an diesem Tag erledigen sollte, es standen auch mit detaillierten Beschreibungen sämtliche Pflichten darauf, die ich monatelang ohne jede Anweisung ausgeführt hatte. Abgesehen von den mir zustehenden Pausen zum Essen oder für Toilettengänge hatte er jede Minute meines Arbeitstages eingeteilt und ausgefüllt.
    In der Highschool hatten wir einen Lehrer gehabt, der keine Mädchen mochte. Damit will ich nicht sagen, dass er schwul war, er war nur frauenfeindlich und aus irgendwelchen Gründen der Meinung, Jungen seien wertvollere Geschöpfe als Mädchen. Wenn ich an die Jungen in unserer Klasse zurückdenke, komme ich zu dem Ergebnis, dass der Mann ein Idiot war, aber mit sechzehn bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als die Sache irgendwie durchzustehen. Dieser Lehrer war durch gute Noten, die ich mir hart erarbeitet hatte, nicht zu beeindrucken – und ich musste für meine guten Noten wirklich hart arbeiten. Ich erwähnte bereits, dass ich nicht gerade ein Superhirn war. Aber ich war auch keine schlechte Schülerin, und als ich in meinem ersten Test exzellent abschnitt, schnaubte dieser Lehrer verächtlich – dieser Mann, dessen Aufgabe es war, junge Menschen zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen – und unterstellte mir, bei dem Jungen, der während des Tests neben mir gesessen hatte, abgeschrieben zu haben. Dadurch lernte ich eine wichtige Lektion.
    Ganz gleich, wie hart du arbeitest, es wird immer irgendjemanden geben, der dich für geistig minderbemittelt hält.
    Ein Teil von mir wäre am liebsten in Pauls Büro gestürmt, hätte ihm die Liste auf den Schreibtisch geknallt und wütend gekündigt, aber ich wusste, dass ich das auf keinen Fall tun würde. Ich brauchte meinen Job. Ich wollte ihn. Ich konnte viel mehr als eine dumme Liste ertragen, um ihn zu behalten.
    Also tat ich, was ich schon in der Highschool angesichts dieses idiotischen Lehrers getan hatte, der der Meinung gewesen war, Jungen seien besser als Mädchen.
    Ich arbeitete bis zum Umfallen. An jenem Tag betrachtete ich es als Spiel, die Liste durchzugehen und jede einzelne Aufgabe darauf zu erledigen. Und während die Stunden verstrichen und ich einen Punkt nach dem anderen abarbeitete, wuchs mein Selbstbewusstsein langsam, aber stetig. Mir war nie zuvor aufgefallen, was ich alles an einem einzigen Arbeitstag schaffen konnte.
    Mir war nie in den Sinn gekommen, alles aufzuschreiben, was ich tat. Als ich mir nach Feierabend all die erledigten Punkte auf der Liste ansah, kam mir mein Job plötzlich nicht mehr geistlos und öde vor. Ich hatte etwas getan. Hatte eine Menge getan, und als ich die Liste in Pauls Büro trug, konnte ich meine Genugtuung nicht verbergen. Jeder einzelne Punkt war abgehakt und am Rand mit meinen ordentlich niedergeschriebenen Anmerkungen versehen.
    „Fertig“, verkündete ich, trat zurück und wartete, was er nun sagen würde.
    Doch anders als der Lehrer, der wahrscheinlich meine Bemühungen mit einem höhnischen Kommentar abgetan hätte, überflog mein Chef die Liste und hakte seinerseits noch einmal jeden Punkt mit seinem Füllfederhalter ab.
    Dann hob er den Kopf und schaute mich an. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie blau seine Augen waren. Paul hielt den Bogen mit beiden

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