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Anonym - Briefe der Lust

Anonym - Briefe der Lust

Titel: Anonym - Briefe der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Hart
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aus. Er hatte seine Krawatte gelockert, sein Jackett ausgezogen und die Ärmel hochgerollt. Hinter ihm hörte ich in seiner separaten Toilette das Wasser rauschen.
    Ich nickte, und er verschwand wieder in seinem Büro, doch einen Augenblick später sank mein Herz. Ich war noch nicht mit dem Kopieren der Unterlagen fertig. Mir war klar gewesen, dass ich das erledigen musste, denn es gehörte zu meinen üblichen wöchentlichen Aufgaben, aber es hatte nicht auf Pauls Liste gestanden. Ich wollte nicht zugeben, dass ich abgelenkt gewesen war.
    Nach kurzem Klopfen öffnete ich die Tür zu seinem Büro. „Paul?“
    Beide blickten auf. Sie hatte ihren Stuhl dicht neben seinen gestellt, und beide beugten sich über etwas, das aussah wie eine Kalkulationstabelle. Auch sie hatte ihre Kostümjacke ausgezogen, und ihre Brüste pressten sich von innen gegen ihre Seidenbluse.
    „Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich. „Ich bin noch nicht mit dem Ausdrucken fertig. Das wird ungefähr fünfzehn Minuten dauern, aber ich mache es sofort.“
    Schon früher war es mir manchmal passiert, dass ich mich vor den Augen bestimmter Menschen winzig klein fühlte, aber ich hatte nicht mit den Blicken gerechnet, die die beiden mir jetzt zuwarfen. Sie schauten mich auf unterschiedliche Art an, aber freundlich waren die Blicke von keinem von beiden. Sie musterte mich scharf, während ihre hochgezogenen Brauen sehr verhaltene Überraschung andeuteten, als hätte sie etwas Derartiges von jemandem wie mir eigentlich nur erwartet. Mit ihrem Blick konnte ich umgehen.
    Paul hingegen schaute mich für einige, endlos lange Sekunden vollkommen ausdruckslos an. Dann sah er enttäuscht aus. „Wir brauchen diese Unterlagen jetzt.“
    Er musste mir nicht sagen, dass ich Mist gebaut hatte. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte es getan. Dann hätte ich wütend sein können, weil er mich beschimpfte. Stattdessen spürte ich, wie eine riesige Welle des Schuldbewusstseins in mir aufstieg. Ich hatte nicht getan, was ich hätte tun sollen.
    „Zehn Minuten“, versprach ich.
    „Kein Grund, in Hektik zu geraten“, erklärte Paul. „Erledigen Sie es einfach.“
    Ich schaffte es in sieben Minuten, obwohl das bedeutete, dass ich alle drei Drucker gleichzeitig benutzen musste. Als ich die fein säuberlich sortierten und gehefteten Stapel in Pauls Büro brachte und ihm und ihr jeweils einen reichte, erwartete ich kein Lob.
    Ich erhielt auch keins. Nicht einmal ein Lächeln. Kein knappes Danke. Sie nahmen beide die Papiere entgegen und beugten sich wieder über ihre Arbeit, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, und ich schlich wie ein geprügelter Hund aus dem Büro.
    Meine gedrückte Stimmung besserte sich jedoch schon nach zehn Minuten wieder. Ich arbeitete, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht weil ich unbedingt Anerkennung brauchte, und bisher hatte ich Paul niemals einen Grund gegeben, sich über meine Arbeit zu beschweren, nicht einmal während der ersten paar Wochen, als ich noch kaum gewusst hatte, was ich tat.
    „Kann ich Sie kurz sprechen, Paige?“, fragte Paul, als Vivian schließlich um viertel vor fünf ging.
    „Natürlich.“
    Er trat zur Seite, um mich in sein Büro zu lassen, und deutete auf den Stuhl, der wieder vor seinem Schreibtisch stand. Ich setzte mich. Auch Paul ließ sich nieder, legte die Hände gegeneinander und schaute mich über seinen Schreibtisch hinweg an.
    „Ich wollte nur sichergehen, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.“
    Das hatte ich nicht erwartet. „Es geht mir gut, danke.“ „Der Job überfordert Sie nicht?“
    Plötzlich hatte ich eine unangenehme Vorahnung, wo das hier hinführen könnte. „Nein …“
    „Gut.“ Paul schaute hinunter auf seine Finger, die jetzt fest verschlungen waren. „Der Gedanke, Sie könnten mit Ihrer Position nicht klarkommen, gefällt mir nämlich gar nicht, Paige.“
    Ein einziger Fehler in sechs Monaten, und er machte sich Gedanken, ich könnte überfordert sein? Am liebsten wäre ich aufgestanden, hätte Paul einen Vogel gezeigt und wäre aus seinem Büro marschiert. Hätte er spöttisch oder herablassend geklungen, hätte ich es womöglich getan. Doch so war es nicht. Er klang … besorgt.
    „Es tut mir leid, dass ich die Ausdrucke vergessen habe, Paul. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Da war ich mir sicher. Möglicherweise würde ich ein Dutzend anderer Aufgaben vergessen, aber niemals wieder würde es geschehen, dass ich vergaß, den verdammten

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