Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
während Tom mürrisch und gedankenverloren auf dem Beifahrersitz hockt. Jerry mustert mich im Rückspiegel, und ich lächle ihn an, recke den Daumen in die Höhe und stimme in sein Geschrei mit ein.
KAPITEL 21
Manchmal grusle ich mich vor mir selbst.
Meistens geschieht das mitten in der Nacht, wenn ich aufwache und nicht mehr weiß, warum ich meinen linken Arm nicht mehr bewegen kann oder dass ich langsam verwese, und mich frage, woher der Gestank kommt.
Ein anderes Mal wiederum sehe ich meine Reflexion im Spiegel und will schon schreien, als ich den entsetzten Ausdruck auf meinem eigenen Gesicht bemerke.
Manchmal kommt es vor, dass ich im Weinkeller auf meiner Matratze hocke und auf den Zweiunddreißig-Zoll-Fernseher starre, den meine Eltern mir gekauft haben, während mein Blick zu den Flaschen an den Wänden wandert und ich mir vorstelle, dass alle mit einem magischen Elixier gefüllt sind, von denen jedes einen anderen Körperteil heilt.
Der 1986er Grgich Hills Cabernet Sauvignon bringt meinen rechten Arm wieder in Ordnung, der 2000er Beringer Founder’s Estate Merlot meinen linken Knöchel, der 1995er Castello Di Broglio Chianti mein Gesicht und der 1999er Monticello Pinot Noir meine Stimme. Dad lagert hier unten Chardonnays, Sauvignon Blancs, Chenin Blancs und Rieslinge, doch ich habe mir nie viel aus Weißwein gemacht. Das ist, als würde man Corona statt Guinness trinken. Ich hab nie verstanden, warum.
An diesem Morgen schaue ich mir auf VH1 Musikvideos aus den 80ern an, während ich mir mit dem 1999er Monticello Pinot Noir den Mund ausspüle.
Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein, aber es kommt mir so vor, als hätte der Wein heute Morgen einen intensiveren Geschmack als sonst.
Jedes Mal, wenn ich gegurgelt habe, schlucke ich mein magisches Elixier herunter und probiere aus, wie das mit dem Singen klappt. Nicht, dass ich aus voller Kehle ein Lied schmettere. Von den meisten Songs im Fernsehen kenne ich kaum den Text, und die meisten Wörter, an die ich mich erinnere, stoße ich in einem gemurmelten Kauderwelsch hervor, als hätte ich Angst vor der Erkenntnis, dass ich mir, was mein wiedergewonnenes Sprachvermögen betrifft, nur etwas vormache. Doch als »Bohemian Rhapsody« von Queen erklingt, drehe ich den Fernseher so laut auf, dass er mein Gekreische übertönt. Vielleicht etwas zu laut. Denn mein Vater klopft gegen die Tür des Weinkellers und fordert mich auf, »die verdammte Kiste leiser zu stellen!«.
Ich tu so, als würde ich ihn nicht hören.
Auch von diesem Song kenne ich nicht den kompletten Text. Doch bei aufgedrehter Lautstärke spielt das keine Rolle. Ich drehe den Song gehörig durch den Wolf, krächze unverständliche Laute, die klingen, als würde eine Ente versuchen, Holländisch zu lernen. Nur ab und zu quake ich etwas, das mir irgendwie bekannt vorkommt, ein Grunzen oder Kreischen, das fast an Sprache erinnert. Wörter wie »too«, »no« und »eye«. Sicher, das sind nur winzige Schritte. Aber was bin ich anderes als ein kleines Kind?
Hineingeboren in eine Welt des Verfalls.
Das Laufen und Sprechen neu lernen muss.
Gesäugt an der Brust der Hoffnung.
Ich habe keine Ahnung, wie es physiologisch möglich ist, dass mein Sprechvermögen zurückkehrt. Vielleicht tut es das auch gar nicht. Vielleicht lerne ich bloß, Laute zu formen, die wie Wörter klingen. So oder so, das ist etwas Neues. Und wenn die meisten Veränderungen deines Daseins aus einem neuen Geruch, dem Verlust eines Körperteils oder frisch geschlüpften Maden bestehen, ist alles, was in die entgegengesetzte Richtung zu führen scheint, eine deutliche Verbesserung.
Als der Song zu Ende ist und Werbung kommt, drehe ich wieder leiser, spüle mit dem Pinot feierlich meinen Rachen aus und lausche meinem Vater, der hinter der Tür am oberen Treppenabsatz Verwünschungen gegen mich ausstößt. Normalerweise verhagelt es mir die Laune, wenn er mich so runterputzt. Es ist ziemlich schwer, positiv zu denken, wenn ein Elternteil andeutet, dass du der Menschheit einen größeren Dienst erweist, wenn du in einen Häcksler steigst.
Diesmal aber amüsiert mich seine Verachtung, und ich pruste los, so dass der Pinot aus meiner Nase aufs Bettzeug spritzt und ich noch heftiger lachen muss. So sehr, dass ich fast ersticke, wenn das möglich wäre. Und auf einmal wünsche ich mir, ich hätte jemanden, um diesen Moment zu teilen. Jemand, der mit mir lacht. Jemand, der die Veränderungen, die ich durchmache, nachempfinden
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