Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
nicht wissen wollen. Natürlich hatte ich den Verdacht, dass er Menschenfleisch gegessen hat, aber ich habe es trotzdem nicht gemeldet.«
»Was ist mit ihm passiert?«, fragt Rita.
»Er meinte, sobald man ihn von einem Atmer nicht mehr unterscheiden kann, würde er an einen Ort ziehen, wo niemand seine Vergangenheit kennt, und ein neues Leben beginnen«, sagt Helen. »Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Laut Unterlagen ist er einfach verschwunden.«
»Hast du einmal irgendjemandem gegenüber erwähnt, was er dir erzählt hat?«, fragt Leslie.
Helen schüttelt den Kopf. »Bis jetzt nicht.«
»Gibt es Atmer, die davon wissen?«, fragt Naomi.
»Keine Ahnung«, sagt Helen. »Ich schätze, dass man an entsprechender Stelle wohl Bescheid weiß. Oder wenigstens einen Verdacht hat. Doch falls das zutrifft, hat man die breite Öffentlichkeit nicht davon informiert.«
Jetzt verstehe ich auch, warum wir nicht ins Internet dürfen. Wenn wir weltweit solche Informationen austauschen könnten, würde das für die Lebenden eine Menge Probleme mit sich bringen.
»Aber ich garantiere euch: Wenn das Amt für Wiederauferstehung hier aufkreuzt und merkt, dass sich unser körperlicher Zustand verbessert hat«, sagt Helen, »wird man uns alle melden.«
Außer als Crashtest-Dummys, Studienobjekte für die plastische Chirurgie, Ersatzteillager für Organe und Versuchskaninchen für eine Reihe scheußlicher wissenschaftlicher
Experimente kann man als herrenloser oder in Ungnade gefallener Zombie auch an jenen Orten enden, die unter den Untoten gemeinhin als »Fegefeuer der Wiederbelebten« bekannt sind - auf der Mülldeponie, im Zombie-Zoo oder in einer von mehreren Realitiy-Sendungen. Zombie Nanny ist wohl die schlimmste davon, obwohl ich gehört habe, dass Survivor Zombie ihr kaum nachsteht.
»Und wie machen wir jetzt weiter?«, fragt Leslie.
»Wir machen überhaupt nicht weiter.« Helen erhebt sich von ihrem Platz, tritt an die Tafel und fängt an zu schreiben. »Wir werden von Ray kein Fleisch mehr annehmen und niemandem außerhalb der Gruppe davon erzählen, wir werden die sichtbaren Anzeichen des Heilungsprozesses mit Hilfe von Make-up und Kleidungsstücken kaschieren und uns in Zukunft beherrschen.«
Helen tritt zur Seite und gibt den Blick frei auf das, was sie geschrieben hat:
ICH WERDE KEINE LEBENDEN VERSPEISEN.
»Und jetzt alle zusammen.«
KAPITEL 33
Jerry, Rita und ich laufen am Straßenrand entlang; wir sind auf dem Weg zu Ray, um zu fragen, ob er noch mehr Menschenfleisch hat.
Jerry hatte zunächst Bedenken, dass wir uns damit direkt Helens Anweisungen widersetzen, doch Rita konnte ihn davon überzeugen, dass wir, da die Atmer, von denen das Fleisch stammt, ja bereits tot sind, keine Lebenden im Wortsinn essen.
»Was, wenn Ray nicht zu Hause ist?«, fragt Jerry.
Ich zucke mit den Schultern. Es ist das erste Mal seit dem Unfall, dass ich mit beiden Schultern zucken kann. Das sind nicht gerade weltbewegende Neuigkeiten, aber wenn deine linke Schulter fast fünf Monate lang eine nutzlose Masse aus Knochen und Muskeln war, dann ist das wie ein Sechser im Lotto.
Jerry lüpft seine Baseballkappe und kratzt sich an der Kopfhaut. Im diffusen Licht einer Straßenlaterne kann ich erkennen, dass von seinem Gehirn weniger freiliegt als sonst.
»Meint ihr, er hat was dagegen, wenn ich mir noch ein paar Playboy -Hefte leihe?«
Irgendwann schiebt Rita ihre rechte Hand in meine linke. Mich fröstelt; es ist ihre Berührung ebenso wie die Tatsache, dass ich tatsächlich ihre Hand spüren kann. Außerdem
werde ich mit jeder Sekunde erregter. Glücklicherweise ist Jerry vorausgeeilt, um eine Beutelratte zu jagen, darum kriegt er nicht mit, wie Rita ihre Hand zur Vorderseite meiner Hose wandern lässt.
Es ist fast zehn, als wir den Hintereingang des Getreidespeichers erreichen. Vor ein paar Wochen wäre mir bei der Vorstellung, gegen die Ausgangssperre zu verstoßen, selbst wenn bis dahin noch eine Stunde Zeit wäre, der Phantomschweiß ausgebrochen. Doch wenn man erst einmal Menschenfleisch gegessen hat, sind all die Regeln und Verbote keine so große Sache mehr.
»Scheint keiner da zu sein«, sagt Rita.
»Na ja, aber wenn wir schon mal hier sind …«, sagt Jerry.
Gerade als er die Hand nach der Tür ausstreckt, dringen aus dem Innern die gedämpften Stimmen mehrerer Männer und Frauen, dann das Geräusch von splitterndem Glas.
»Mist«, sagt eine Frau.
Darauf ertönt ein Männerstimme. »Ich glaub, ich muss schon
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