Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
dieses ruchlose Scheusal.«
So viel zur Hand Gottes.
KAPITEL 36
»Andy, mein Schatz, kannst du kurz mal hochkommen?«
Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hatten sich zwei Fäden an meiner Wange gelöst, darum habe ich sie mit einer Schere abgeschnitten. Und jetzt schminke ich mich, damit es so aussieht, als wollte ich die Nähte überdecken, doch in Wirklichkeit versuche ich die Tatsache zu verbergen, dass meine Wunden heilen.
»Andy?«, ruft meine Mutter erneut.
Ohne das Make-up würde ich zwar immer noch nicht als Atmer durchgehen, aber alle, die mich kennen, wie meine Eltern, würden mich garantiert für einen neuen und besseren Andy halten.
»Andy?«
»Okay, okay«, murmle ich, und dann muss ich lächeln, denn mir wird klar, dass dies die erste vollkommen verständliche Antwort ist, die ich gegeben habe.
Ich muss daran denken, weiterhin den Mund zu halten, denn sonst würde ich meinen Eltern einen mordsmäßigen Schrecken einjagen und meinem Vater einen weiteren Vorwand liefern, meinen Körper irgendwelchen Leuten zu überlassen, die damit herumspielen wollen. Trotzdem würde ich gerne den Ausdruck auf ihren Gesichtern erleben. Dafür würde es sich fast lohnen. Nur würde
ich dann Rita nie wiedersehen, und das spricht absolut dagegen.
Ich hänge mir meine Schreibtafel um den Hals, dann schleppe ich mich die Treppe hoch, so als könnte ich meinen linken Arm und mein Bein immer noch nicht bewegen. Wenn du plötzlich feststellst, dass dein Körper auf dem Weg der Besserung ist und du deine wesentlichen motorischen Fähigkeiten wiedererlangst, ist es gar nicht so leicht, so zu tun, als hättest du zerfetzte Gliedmaßen und würdest weiter verwesen. Das ist so, als würdest du dich als Frau verkleiden und die Herrentoilette aufsuchen, um das Urinal zu benutzen.
Manchmal denkt man einfach nicht daran.
Von oben dringt der Duft selbst gebackener Kekse herunter, während Frank Sinatra seine Version von »Mistletoe and Holly« trällert. Mom war schon immer ein Fan des Rat Pack.
Weihnachten steht vor der Tür, was mir irgendwie passend erscheint, da ich jeden Tag voller Vorfreude auf die neuen Geschenke erwache, die mich erwarten. Doch statt unter dem Weihnachtsbaum oder in meinem Strumpf finde ich sie an meinem Körper oder in meinem Spiegelbild.
Wenn du allmählich wieder laufen und sprechen kannst, wenn du Freude und Erregung verspürst und andere Körperreaktionen, die du nicht mehr für möglich gehalten, wenn du wieder schmecken, riechen und fühlen kannst, verlieren die moralischen Fragen, die mit diesen Veränderungen einhergehen, an Bedeutung. Sie werden unwichtig. Eine unbedeutende Ablenkung bei deinem Selbstfindungsprozess.
Was Gott betrifft, mache ich mir jedenfalls keine Gedanken mehr. Er hatte seine Chance. Und er hat mich in die SPCA geschickt.
Während ich die Treppe hochsteige, vergewissere ich mich immer wieder, ob ich vielleicht schon einen Herzschlag bei mir spüren kann.
Allmählich frage ich mich, ob ich, wenn mein Herz irgendwann wieder schlägt, noch ein Zombie sein werde? Ob ich, wenn Blut durch meine Venen fließt, im eigentlichen Sinn noch ein Untoter bin? Was, wenn ich wieder anfange zu atmen? Macht mich das zu einem Menschen? Erhalte ich dann die Rechte und Möglichkeiten zurück, die mein Leben früher ausgemacht haben?
Wahrscheinlich spielt das im Grunde keine Rolle, denn ich kann sowieso nicht kontrollieren, was die Atmer über mich denken, über Wesen wie mich. Sie glauben, was sie glauben wollen, selbst innerhalb der eigenen Familie.
Schließlich erreiche ich den oberen Treppenabsatz und wanke demonstrativ in die Küche, wo mein Vater am Tisch hockt und abwesend einen Stapel Papiere durchblättert. Meine Mutter steht an der Spüle und erledigt den Abwasch, sie hat offensichtlich nicht mitbekommen, dass ich das Zimmer betreten habe.
»Setz dich«, sagt mein Vater.
Außer bei unserem unheilvollen Thanksgiving-Essen hat mein Vater mich seit meiner Wiederbelebung kaum direkt angesprochen, und auch meine Mutter wirkt heute seltsam reserviert. Trotzdem kommt mir das alles irgendwie bekannt vor - eine Situation, die ich schon mal erlebt habe. Das Unbehagen, das ich verspüre, kommt mir ebenfalls bekannt vor, und es ist nicht jene Art von Unbehagen, das man empfindet, weil man als Zombie in der Welt der Atmer existiert, nein, ich kenne es von früher. Aus meiner Jugend.
Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Immer wenn meine Eltern es für nötig hielten, mich
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