Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
betritt. Die Frau hinterm Tresen verzichtet auf einen zweiten Blick. So weit so gut. Und ich möchte bezweifeln, dass die Angestellte es für möglich hält, dass die Frau, die an einem verregneten Samstag im Dezember um fünf Uhr morgens mit einem BMW hier vorgefahren ist und den Laden betreten hat, eine Untote ist.
Während ich hier warte, bereit, Rita beizuspringen, falls etwas schieflaufen sollte, spüre ich ein Vibrieren, zunächst noch ganz schwach, doch dann immer stärker. Alle zehn bis zwölf Sekunden, und es besteht kein Zweifel, wo es herkommt.
Aus meinem Innern.
Weniger als zwei Minuten, nachdem sie den 7-Eleven betreten hat, verlässt Rita mit ihrem Einkauf den Laden, und ich lasse den Kofferraum aufspringen. Sobald sie den Eisblock in der Kühlbox verstaut hat, springt sie auf den Fahrersitz.
»Ein Kinderspiel«, sagt sie.
Ich beuge mich zu ihr hinüber und gebe ihr einen Kuss, nehme ihre Hand und drücke sie gegen meinen Brustkorb.
Als sie sie fortziehen will, um den Motor anzulassen, halte ich sie fest, und sie sieht mich verwundert an.
»Ist das nicht etwas …«
Ich lege ihr einen Finger auf die Lippen. Und als sie einen Moment später meinen Herzschlag spürt, strahlt sie übers ganze Gesicht, und wir umarmen uns, während unsere zwei Herzen unregelmäßig, aber einträchtig nebeneinander pochen.
Wir würden den Moment beide gerne noch etwas auskosten, doch diesen Luxus können wir uns nicht leisten. Erstens geht in weniger als zwei Stunden die Sonne auf. Zweitens müssen wir unser Ziel erreichen, bevor der Eisblock schmilzt.
Zu Jerrys Wohnung sind es mit dem Wagen zwar nur ein paar Minuten, doch jedes Mal, wenn vor uns auf der Straße oder im Rückspiegel ein Paar Scheinwerfer aufblitzen, fängt mein Herz an zu rasen. Schön, es schlägt dann nur alle neun statt alle zehn Sekunden, aber wenn dein Herz über vier Monate lang ausgesetzt hat, ist der Begriff »rasen« relativ.
Glücklicherweise ist Jerry noch wach. Ich habe keine Ahnung, was er um fünf Uhr morgens treibt, doch als ich an sein Fenster klopfe, kommt kurz darauf sein Gesicht hinter dem Vorhang zum Vorschein. Zunächst mit diesem furchteinflößenden Ausdruck, mit dem er sonst die Schaulustigen verjagt - bis er merkt, dass ich es bin.
»Alter«, sagt er und öffnet das Fenster.
Ich halte einen Finger an die Lippen und fordere ihn mit einer Geste auf, nach draußen zu kommen. Darauf verschwindet er wieder hinter dem Vorgang, taucht kurz darauf mit einem Kapuzenshirt, einer Jeans und schwarzen Converse All-Stars erneut auf und klettert aus dem Fenster.
»Was geht?«, flüstert er.
»Ich brauch deine Hilfe«, sage ich.
Da er mich nicht fragt, wobei er mir helfen soll, weiß ich, dass er dabei ist, egal worum es geht. In dem Moment wird mir klar, dass Jerry einer der besten Freunde ist, die ich je hatte.
»Hey, Rita«, sagt Jerry, sobald wir im Wagen hocken. »Hübsche Karre. Deine?«
»Sie gehört Andys Eltern«, sagt sie, startet den Wagen und fährt los.
»Alter«, sagt er. »Werden die nicht stinksauer sein?«
Rita und ich schauen uns grinsend an.
»Was?«, sagt Jerry.
Während wir weiterfahren, erzähle ich ihm, was passiert ist und was wir jetzt vorhaben. Als ich fertig bin, lehnt Jerry sich in den Rücksitz, pult an dem abheilenden Schorf in seinem Gesicht herum und starrt mich an.
»Alter, du hast deine Mutter gegessen?«
Ich nicke.
Er schweigt für einen Moment.
»Welchen Teil?«
Ich sage es ihm.
»Wie hat’s geschmeckt?«
»Besser als das Fleisch von Ray«, sage ich.
Für knapp eine Minute gibt Jerry keinen Ton von sich, und so langsam beschleicht mich das Gefühl, dass das zu viel für ihn war. Sicher, wir sind Zombies. Und wie sich herausgestellt hat, haben wir eine Vorliebe für Menschenfleisch. Aber die beiden waren trotzdem immer noch meine Eltern. Meine Familie. Vielleicht ist das selbst unter Untoten ein Tabu.
Dann beugt Jerry sich zwischen den beiden Vordersitzen nach vorne und sagt: »Kann ich mal zum Mittagessen vorbeikommen?«
Es ist Viertel nach fünf, als wir hinter dem Getreidespeicher parken. Es ist niemand in der Nähe, und ich hoffe, wir schaffen es aus dem Wagen, bevor irgendwelche Atmer vorbeifahren. Rays Lumina steht immer noch hinter den Sträuchern. Solange die Schlüssel im Handschuhfach sind, sollten wir kein Problem haben.
»Wir haben ein Problem«, sagt Jerry.
Ich blicke zum Speicher zurück. Vor ein paar Tagen hätte ich nur den Regen und die Dunkelheit ausmachen
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