Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
Gedanken über die Zukunft machst. Aber die Rippchen meiner Mutter waren köstlich. Und das ist noch untertrieben. Das Menschenfleisch, das wir von Ray bekommen haben, war zwar nahrhaft und lecker, doch frisch zubereitet ist es einfach himmlisch. Das ist wie der Unterschied zwischen einem Thunfischsalat und einem frischen, scharf angebratenen Fischsteak.
»Noch was von den Rippchen?«, fragt Rita.
Ich schüttle den Kopf. Obwohl nicht viel Fleisch an den Knochen war, kann ich nicht mehr. Ich weiß, dass die Zombies im Kino Gliedmaßen und kübelweise innere Organe verschlingen und offensichtlich nicht genug davon kriegen können. Doch das ist nur eine weitere von Hollywoods Lügen. Menschenfleisch ist gehaltvoll und sättigend wie eine doppelte Portion Schokoladen-Soufflé. Sicher, es ist eher herzhaft als süß, doch man muss nicht viel davon essen, um satt zu werden. Man will einfach nur noch den Gürtel lockern und sich aufs Sofa fläzen, um Letterman zu schauen.
Ich wette, dass die Zombies in den Hollywood-Filmen alle Bauchschmerzen kriegen.
Als wir zu Ende gegessen haben, spüle ich das Geschirr ab, und Rita verstaut die Reste im Kühlschrank. Während ich am Becken stehe und dabei zusehe, wie Rita die gerösteten Rippchen meiner Mutter in einen Plastikbehälter stopft, werde ich von Bildern meiner Eltern und Erinnerungen an sie überwältigt, die in schneller Folge vor meinem geistigen Auge aufsteigen. Geburtstage, Ferien, Schulabschlüsse. Meine Hochzeit, die Geburt meiner Tochter. Zufällige Momentaufnahmen zusammen mit meinen Eltern, die jetzt tot sind und im Amana Bottom Freezer liegen.
Als Letztes sehe ich meine Mutter, wie sie mir dabei hilft, Grundierung auf meine Nähte aufzutragen.
Und bevor ich überhaupt kapiere, was los ist, krümme ich mich schluchzend auf dem Boden. Einen Moment später hockt Rita hinter mir, die Arme um meinen Körper geschlungen, ihre Wange gegen meine gepresst. Sie sagt keinen Ton, sondern hält mich einfach nur fest. Ihr langsamer, sporadischer Herzschlag, den ich an meinem Rücken spüre, besänftigt mich, erinnert mich daran, dass mein eigenes Herz vor fast fünf Monaten aufgehört hat zu schlagen und dass diese Erinnerungen an meine Eltern aus einem Leben stammen, das nicht nur hinter mir liegt, sondern sich auch von mir abgewandt hat. Und mir wird klar, dass meine Trauer weniger meinen Eltern gilt als vielmehr unserem gemeinsamen Leben, den Erinnerungen, die ich ihnen verdanke, und den zukünftigen Erinnerungen, die schlagartig erloschen sind, als ich mit meinem Passat gegen den Mammutbaum gekracht bin.
Außer dem Gefühl von Trauer und Reue beschleicht mich die Erkenntnis, dass man das Verschwinden meiner Eltern irgendwann bemerken wird. Was bedeutet, dass ich ohne Paddel auf dem sprichwörtlichen Fluss treibe. Eigentlich sogar ohne Boot. Was ich getan habe, kann ich nicht rückgängig machen, und ich kann nicht erwarten, dass ich damit durchkomme.
Das hier ist kein Disney-Film.
Mir steht keine gute Fee zur Seite.
Und ich kann nicht nochmal von vorne beginnen.
Nun, in gewisser Weise schon. Ich bin gestorben und wurde wiedergeboren. Nicht wie Jesus, denn es ist ziemlich schwer, es Gottes Sohn gleichzutun, falls man an so was überhaupt glaubt. Aber wie Jesus und all die wiedergeborenen
Christen habe ich eine zweite Chance bekommen. Sicher, offiziell hat Jesus seinen Status als Lebender nie wiedererlangt, und wenn man’s genau nimmt, bin ich untot, darum glaube ich auch nicht, dass ich den Status als Atmer wiedererlange, selbst wenn mein Herz wieder zu schlagen anfängt und Blut durch meine Venen schießt. Allerdings gibt es noch eine andere Möglichkeit, doch wenn ich hier heulend auf dem Küchenboden hocke, wird daraus nichts.
Allmählich höre ich auf zu schluchzen und setze mich aufrecht hin. Ich stoße einen Rülpser hervor und spüre am Gaumen den Geschmack meiner Mutter, doch das hat weder einen erneuten Gefühlsausbruch zur Folge, noch löst es einen Brechreiz bei mir aus. Ich habe meine Mutter getötet und verspeist. Zum Teil jedenfalls. Und das muss ich einfach akzeptieren. Das gehört zu meiner neuen Identität, und ich kann nichts mehr daran ändern. Es ist, wie es ist.
Ich finde, das sollte Helen bei unserem nächsten Treffen an die Tafel schreiben:
ES IST, WIE ES IST.
Auch wenn die meisten Sprüche von Helen gut gemeinte Ermunterungen sind …
ICH BIN EIN ÜBERLEBENDER.
DU BIST NICHT ALLEIN.
FINDE DEINE BESTIMMUNG.
… bieten sie weder
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