Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen
an: der »echte« Freund, der »echte Edelstein«. Schon Platon entwickelt in seinem berühmten Höhlengleichnis eine vielschichtige Lehre der Erkenntnis, die zum Wahren, zum Echten, zur Wahrheit führen soll. Nach dem Höhlengleichnis sitzen angekettete Gefangene in einer Höhle und sehen auf der Innenwand der Höhle Schatten von Figuren, die hinter ihrem Rücken vorbeigetragen werden. Die Höhle steht für die Welt, die sichtbar ist, für die Welt der Erfahrungen. Erst die Welt außerhalb der Höhle ist die wahre, die echte Welt. Ein schmerzhafter Weg führt die Gefangenen aus der scheinbaren Welt in die wahre Welt. In der Höhle sieht der Mensch nur Schatten und Spiegelbilder, in der wahren Welt sieht der Mensch dann die Dinge selbst.
Auch heute noch sind wir auf der Suche nach der »wahren Welt«, oder zumindest dem »authentischen Leben«, dem »eigentlichen Existieren«. Zum einen suchen wir damit uns selbst, unser eigenes Ich, zum anderen suchen wir aber auch echte Berichte, Bilder und Dokumente, da wir diese in einer Welt der Massenmedien immer mehr infrage stellen. Viel mehr noch als in der Welt Platons bekommen wir die scheinbare Welt zu spüren. In Twitter erfahre ich von einer ganz persönlichen Seite mir völlig fremder Personen. In Chats diskutiere ich mit Menschen, die ich überhaupt nicht kenne. Und das alles von meinem Schreibtisch aus. Rein virtuell stehen mir Personen scheinbar nahe. Aber diese Welt via Bildschirm scheint nicht zu genügen: Wahrscheinlich ist sie wirklich zu viel Schein und gar kein Sein.
Rousseau kritisiert jede Art von Schein, weil jeder Schein das eigentliche Sein verhindert. Er kritisiert Kultur, weil Kultur Natur verhindert. Kultur ist für Rousseau auch eine Art Schein, der von Menschen gemacht wird, der Natur sozusagen aufgesetzt wird und somit alles Natürliche verhindert oder verdeckt.
Vielleicht spüren wir heute den Unterschied von Kultur und Natur noch viel stärker als zuzeiten Rousseaus. Wenn wir uns in einer unserer hektischen Großstädte befinden, mit Leuchtreklamen, Autos, Smog, Lärm und Hektik, wünschen wir uns oft das vermeintliche Gegenteil: die Natur.
Wenn wir uns überlegen, dass heute die meisten Menschen in Büros arbeiten und im Schnitt weniger als drei bis fünf Kilometer am Tag gehen, im Gegensatz dazu in früheren Kulturen Jäger und Sammler 20 bis 40 Kilometer am Tag gingen, können wir uns vorstellen, dass wir uns in unserer Kultur manchmal nicht so richtig wohlfühlen. Wahrscheinlich sehnen wir uns nach unserer Natur. Unser Körper ist dafür angelegt, dass wir 20 bis 40 Kilometer am Tag gehen. Das ist unsere Natur. Wir Büromenschen schaffen, wenn’s hochkommt, gerade mal fünf Kilometer. Das ist unsere Kultur. Heute bewegen wir uns, wenn wir uns bewegen, eher sitzend in virtuellen Räumen. Unser Lebenstempo, unsere Aktivitäten und unsere Arbeitsabläufe verlaufen jedoch immer schneller, immer flüchtiger, im Gegensatz zu unserer eigenen Bewegung. Einerseits rasante Beschleunigung, andererseits Bewegungsarmut. Der Mensch gerät aus der Balance, aus seinem natürlichen Gleichgewicht. Um ein natürliches Gleichgewicht herstellen zu können, brauchen wir zu unserer hektischen Alltagswelt die beruhigende Natur. Da wir in einer sehr schnellen Zeit leben, sehnen wir uns oft nach mehr Ruhe, um ausgeglichen zu sein, um unser inneres Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Die natürlichste Form der Entschleunigung ist das Wandern. In der freien Natur erleben wir einen langsamen Strom von Eindrücken. Die Welt der Sinne kann sich in der Natur voll erschließen: Sonne, Himmel, Regen, frische Luft. In einer Studie hat die Universität Bern nachgewiesen, dass Bäume, Wiesen und Felder unsere Konzentration und positiven Gefühle fördern, gleichzeitig Frustration, Ärger und Stress reduzieren. Denn Natur unterstützt kognitive, motorische, soziale und emotionale Entwicklungen, vor allem bei Kindern. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Naturerlebnisse Stresshormone abbauen, Verspannungen und Ängste mildern. Denn der Noradrenalin- und Cortisolspiegel sinkt, Herzaktivität, Muskelspannung und Hautleitfähigkeit nehmen ab und die ruhigen Alphawellen im Gehirn nehmen zu.
Selbst die Vorstellung von Natur kann schon wirken. Die Universität Witten Herdecke fand heraus, dass ängstliche Zahnarztpatienten ruhiger bleiben und weniger Schmerzen und Angst empfinden, wenn man sie mit Meeresrauschen beschallt. Dieser positive Effekt der Natur ist noch wenig
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