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Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen

Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen

Titel: Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Schilling-Frey
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soziale Zwangsjacke zurückgedrängt.
    Aber dadurch, dass sie nicht ausgelebt werden können, sind sie nicht einfach weg. Nein, viel schlimmer! Können diese natürlichen Instinkte nicht nach außen, wenden sie sich nach innen, gegen den Menschen selbst. Dadurch bildet sich jetzt im Menschen eine Art Gewissen und Moral, was Sigmund Freud ein paar Jahre später »Über-Ich« nennt. Die Etablierung des Gewissens und der Moral ist dafür verantwortlich, dass die Seele des Menschen jetzt geformt wird und nicht mehr ihren ursprünglichen, natürlichen Zustand bewahren kann.
    Nietzsche hofft auf Phase drei der Menschheitsgeschichte: die Phase des tatsächlichen Menschen. Ist der tatsächliche Mensch, der Übermensch und freie Geist, geboren, löst er sich von Sitte und Moral, um seinem »eigenen, unabhängigen, langen Willen« zu folgen. Dieser Mensch wird aber nicht einfach so geboren, sondern er muss sich, um zu einem freien Menschen zu werden, mit viel Mut selbst überwinden.
    Wenn wir Nietzsche heute fragen würden, in welcher Phase der Menschheit wir uns befinden, würde er vermutlich mit »Phase zwei« antworten. Schon 1879 und 1882 sprach er von der Menschheit als »Herden-Menschheit« mit entsprechendem »Herden-Instinkt« und »Herden-Gewissensbiss«. 36
    Auch wir wissen heute mehr denn je, dass biografische und gesellschaftliche Erfahrungen und Bedingungen die genetischen Anlagen modifizieren können. Die angeborenen Instinkte können verkümmern oder sogar ins Zerstörerische umschlagen. Es ist die Umwelt, die das Gehirn knetet und ihm damit Gestalt verleiht. Aber was heißt das jetzt für uns? Befinden wir uns wirklich immer lediglich in der zweiten Phase der Menschheit und laufen wie Schafe der Masse hinterher? Wie schaffen wir den Sprung vom »Herdentier« zum mutigen, selbstbestimmten und damit auch glücklicheren Menschen?
    Trau dich!
    Mut gehörte lange Zeit neben Weisheit, Gerechtigkeit und Besonnenheit zu den Kardinaltugenden. In der Antike wurde Mut eher Tapferkeit, Standfestigkeit oder Unerschrockenheit genannt. Tapferkeit war dann gefragt, wenn es galt, Gefahren richtig zu begegnen: Eine gefährliche Situation kann uns entweder in Angst und Schrecken versetzen, sodass wir sofort weglaufen oder gar vor lauter Furcht erstarren. Oder aber wir stellen uns draufgängerisch und ohne innezuhalten der Gefahr entgegen.
    Was das eine zu viel ist, ist das andere zu wenig. Die sachgerechte Reaktion besteht wohl eher in einer Art von Mitte. Dieser Begriff der Mitte stammt von Aristoteles; was er wirklich bedeutet, wird aber heute noch oft missverstanden. Diese Mitte ist nämlich kein Kompromiss zwischen zwei Extremen. Nein, die Mitte ist das Beste, die Höchstform aller möglichen Arten und Weisen der Lebensführung. Die beste Art und Weise, wie wir mit unseren Affekten und Leidenschaften umgehen können. Am besten stellt man sich diese Mitte nicht als einen Punkt auf einer Strecke, sondern als einen Kreis vor: Die Kreismitte nimmt eine herausragende Stellung ein.
    Tapfer ist also, wer weder alle Gefahren auf sich nimmt, noch vor allen Gefahren zurückweicht. Die richtige Einstellung gewinnt der Tapfere dadurch, dass er sich zu seinen Affekten in das richtige Verhältnis setzt: Natürlich verspürt der Tapfere in Gefahrsituationen Furcht, aber er überlässt der Furcht nicht das letzte Wort. Er hat die Fähigkeit, sich von der reinen Furcht zu distanzieren, um dann richtig zu handeln. Weder der Feige noch der Draufgänger hat diese Fähigkeit. Sie geben unüberlegt ihren Trieben nach. Beiden fehlt das reflektierte Verhältnis zu den ihnen angeborenen Emotionen.
    In Zeiten Aristoteles’ war die Tapferkeit, die Courage eine unabdingbare Tugend für die Verteidigung des Gemeinwesens gegen äußere Gefahren und auch gegen innere Erstarrung. Nietzsche greift diese Forderung nach Tapferkeit oder Mut in seinen Theorien auf. Mehr noch: Er macht sie zum Fundament seiner Philosophie. Es ist der Mutige, der seiner Angst trotzt, dem Konformismus und der Gesellschaft widersteht. Mutig denken ist dabei nicht genug: Wichtig sind vor allem die darauf aufbauenden mutigen Handlungen, die letztendlich dem Menschen zeigen, wer er ist. Denn der Mensch ist, was er tut.
    Ohne Mut werden die Menschen zu reinen Herdentieren ohne eigene Ideale und eigene Ziele – sie werden zu »letzten Menschen«. In Also sprach Zarathustra schreibt Nietzsche: »Sie (die letzten Menschen) haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben; denn man

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