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Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Titel: Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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schlechter geworden. Ich gebe Ihnen einen Rat. Hören Sie auf damit. Lesen Sie andere Kolumnen, es gibt weiß Gott genug davon. Machen Sie neue Erfahrungen, lassen Sie sich den Wind um die Nase wehen, und dann, in einem Jahr oder so, kehren Sie zurück. Es wird mit uns beiden vermutlich nicht ganz so schön sein wie beim ersten Mal, aber Sie werden mich, nach all den anderen Lektüren, wieder zu schätzen wissen, so, wie mir auch das Zirpen der Grillen wieder ganz gut gefallen hat.
    Und der Dylan-Song heißt Forever Young.

Dschungelshow
    Die Dschungelshow »Ich bin ein Star – holt mich hier raus« war extrem erfolgreich. Fünf bis sechs Millionen Zuschauer pro Folge. Wieso eigentlich?
    Den meisten Fernseh- und Kulturkritikern fällt zu dieser Frage nur ein, dass diese Show dumm sei und an niedrige Instinkte appelliere. Ich bin heute mal unhöflich und arrogant. Ich finde, wer so argumentiert, hat nichts kapiert.
    Wie funktionierte eigentlich das alte Theater? Durch Katharsis. Das heißt, auf der Bühne werden, stellvertretend für uns im Publikum, die einfachen Gefühle ausgelebt. Böse werden bestraft oder läutern sich, Gute werden belohnt. Der dumme August kriegt eins auf die Mütze.
    Nach diesem einfachsten, ältesten und wirkungsvollsten aller dramatischen Rezepte lief es in den Komödien jahrhundertelang ab, vom Kasperletheater über die Commedia dell’arte bis zu den Klassikern von Molière. Am lustigsten, schrieb Lessing, sind immer noch Prügeleien auf der Bühne. Die Leute gingen, von Anfang an, ins Theater, um zu sehen, wie die Welt in Unordnung gerät und wieder in Ordnung kommt, wie belohnt und bestraft wird.
    Genau nach diesem Rezept läuft es auch in der Dschungelshow. Sie ist erfolgreich, weil sie einfach und klassisch ist.
    Zehn Halbprominente wollen Erfolg und Reichtum und sind bereit, dafür, in Maßen, zu leiden und sich lächerlich zu machen. Das Publikum kann dafür sorgen, dass die Unsympathischen, die Wichtigtuer und die Langweiler bestraft werden, sie werden aussortiert. Am Ende bekommt, wie im Volkstheater, der sympathischste oder interessanteste Charakter das, was er will.
    In den spöttischen Kommentatoren Dirk Bach und Sonja Zietlow besitzt das Stück einen antiken Chor. In den Ekelprüfungen, bei denen die Protagonisten in Bottichen voller Würmer versinken, bekommt das Publikum bestätigt, was es sowieso zu wissen glaubt – wer nach oben will, muss bereit sein, sich schmutzig zu machen. Gleichzeitig versöhnen die Ekelprüfungen das Publikum – man ist nicht prominent oder reich, man ist nicht im Fernsehen, aber man muss immerhin keine Würmer fressen. Lust und Ekel sind verwandte Gefühle, und über Missgeschicke lachen die Menschen, seit es sie gibt.
    Zehn Leute, die für Geld und um zu siegen im Dschungel durch Würmer waten, kommen mir nicht sinnloser oder sinnvoller vor als elf Leute, die für Geld Bälle in Tore schießen. Wer Fußball, Volkstheater, Zirkus, Molière oder Dschungelshows verurteilen will, darf es gern tun. Aber so jemand weiß halt nicht, was Unterhaltung ist.
    Ich schaue mir das an. Es ist wirklich niveaulos. Aber ununterbrochen niveauvoll zu sein, ist mir persönlich zu anstrengend. Wer behauptet, er sei immer, in jeder Sekunde, niveauvoll, soll es mir bitte mal vormachen.

Über die Kultur des Hinschauens
    Seit Wochen lese ich in den Zeitungen nahezu täglich die Formulierung »Kultur des Hinschauens«, meist in Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch an Schulen. Das, was gegen sexuellen Missbrauch an Schulen hilft, ist angeblich eine Kultur des Hinschauens. Falls dies tatsächlich der Fall sein sollte, bin ich sofort dafür. Leider verzichten Personen, die diese Formulierung verwenden, meist darauf zu erklären, was eine »Kultur des Hinschauens« eigentlich ist und wie man sich solch eine Kultur konkret vorzustellen hat. »Hinschauen« allein scheint ja keineswegs zu genügen. Es muss noch eine »Kultur« hinzukommen. Die einzige politische Forderung, die in Deutschland nach 1945 jemals ähnlich häufig zu hören war wie die nach einer »Kultur des Hinschauens«, ist nach meiner Erinnerung die Forderung nach der Wiedervereinigung gewesen.
    Ich wollte herausfinden, wer die Formulierung »Kultur des Hinschauens« oder auch »Hinsehens« erfunden hat. Im März 2009, nach dem Amoklauf von Winnenden, forderte unter anderem der Bund Deutscher Kriminalbeamter eine derartige Kultur. Mit ihr würde so ein Verbrechen nicht wieder vorkommen. Dr. Hermann Kues,

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