Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme
nicht mein ganzes Leben protokollieren, dann kann ich ja gleich ein verdammtes Tagebuch führen. Das ist wie im Überwachungsstaat, nur dass es keine Videokamera tut, ich selber soll es machen. Ich finde den Kugelschreiber nicht, damit fängt’s schon mal an. Ich bin manchmal spontan. Kapiert ihr das, ihr Finanzamtsbubis? Spontan, kennt ihr das Wort?
Ich fahre manchmal spazieren. Ja, wundert euch ruhig! Ich fahre spazieren, um auf Ideen zu kommen. Ist das privat oder geschäftlich? Ich habe eine Idee, dann halte ich an, steige aus und vergesse, das Fahrtenbuch auszufüllen, und bin auch noch stolz darauf, dass ich nicht diese Art Typ bin, die ihr als Staatsbürger gerne hättet, eine Ameise, ein Mehlwurm, der ständig an sein Fahrtenbuch denkt.
Ich will auch vergessen. Es gibt Dinge, die ich vergessen will, o ja. Soll ich alles eintragen? Man kann nicht leben, ohne zu vergessen! Ohne zu träumen! Lest Freud! Nie gehört, den Namen? Das dachte ich mir. Unser Geld könnt ihr uns wegnehmen, unsere Freiheit, unsere Ehre, unsere Vorsteuerabzugsfähigkeit, aber nicht unsere Träume, das nie.
Eine Freundin rief an. Sie hat Karriere gemacht. Sie ist ein hohes Tier. Sie sagt, natürlich fälsche ich mein Fahrtenbuch. Jeder tut das. Die Ansprüche des Staates an uns sind unrealistisch, niemand kann das schaffen. Ich fülle einmal im Monat das Buch aus. Dabei entsteht das Bild eines Menschen, der ich nicht bin.
Diese Person fährt, weil sie eine Unterlage im Büro vergessen hat, um zwanzig Uhr noch mal ins Büro, achtundsechzig Kilometer hin und zurück, dienstlich. Die Frau fährt, wegen einer dienstlichen Frage an ihren früheren Chef, hundertvierundvierzig Kilometer, statt zu telefonieren. Bevor sie ihre neue Stelle angetreten hat, ist sie elfmal zu Vorbesprechungen von Hannover nach Krefeld gefahren. Ich mag diese Frau nicht. Sie ist zwanghaft und antiöko.
Ich sagte, dass ich in meinem Fahrtenbuch ein Mann bin, der jeden Tag das Fitnessstudio aufsucht, vierzehn Kilometer. Dieser Mann muss, bevor er eine einzige Zeile schreibt, sich immer viermal beraten, mit der Agentin oder mit Dr. Clemens Rabelang, das ist ein Mann, der überhaupt nur in meinem Fahrtenbuch existiert.
Es gibt eine Parallelgesellschaft, sagte ich, ein zweites Deutschland. In den Fahrtenbüchern. Ein Land, wo man sich ununterbrochen berät und immer dienstlich unterwegs ist. Man könnte einen Film drehen, in dem das Fahrtenbuch-Paralleluniversum die Macht übernimmt. Alle verhalten sich genau fahrtenbuchgemäß. Die Wirtschaft bricht zusammen. Ja, genau! Über dieses Filmprojekt berate ich jetzt mit Dr. Clemens Rabelang. Viermal.
Über Fernsehen
Seit einiger Zeit besitze ich ein Sommerhaus auf dem Lande. Nun wollte ich in dem Sommerhaus Fernsehen haben, wegen der Bundesliga, deswegen. Da draußen gibt es nur Empfang, wenn man eine Satellitenschüssel hat.
Eigentlich bin ich ganz anders. Folglich durfte der Fernsehmann die Schüssel nicht an der Stelle montieren, wo der Empfang am besten ist, nein, er musste die viertbeste Stelle nehmen, dort, wo es nicht so auffällt. Während er die Schüssel anbrachte, dachte ich, dass ich bigott bin, aber dass ich es wenigstens noch merke.
Etwa vierhundert meiner achthundert neuen Sender befassen sich mit Telefonsex. Man sieht Frauen in Dessous. Sie stöhnen und räkeln sich und sagen: »Ruf mich an! Tu mir dies! Tu mir jenes! Tu es bald!« Man kann Telefonsex mit jungen, mittleren oder alten Frauen bekommen, mit dicken und dünnen, schüchternen und aufdringlichen, auffällig oft mit sogenannten Hausfrauen, vereinzelt auch mit jungen Männern. Nur ältere Männer sind im Telefonsexbusiness nicht vertreten. Wer mit einem älteren Mann Telefonsex haben will, muss sich in Deutschland privat auf die Suche machen.
Vierhundert Firmen, die in Deutschland von Telefonsex leben, da muss es einen gigantischen Markt geben. Wenn keine Kunden da sind, geht nämlich die Firma recht bald pleite, so viel verstehe auch ich von Ökonomie. Telefonsex beeinflusst das Denken und Tun der Deutschen offenbar mindestens so sehr wie Computerspiele, es schreibt bloß niemand darüber. Und »Hausfrauen« sind offenbar das Erotischste überhaupt, nun, es gibt ja auch nicht mehr viele.
Ungefähr fünfzig Kanäle haben sich auf »Parkplatzsex« spezialisiert, man bekommt den nächstgelegenen Sexparkplatz gebührenpflichtig zugesimst. Wieso Tausende Menschen Sex auf einem Parkplatz als reizvoll empfinden, kann ich nicht begreifen. Geht es
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