Ansichten eines Klaus - Roman
Ohrläppchen? Eine kratzbürstige Klitoris?
»... alles Gute auf eurem gemeinsamen Lebensweg.« Die Bräutigamsmutter ist mit ihrer Rede fertig, die Zuhörerschaft applaudiert, ein wenig zu enthusiastisch, wie ich finde. Ein wenig Mitleid schwingt da mit, und herablassende Bewunderung, fein hast du das gemacht, hast denn du die Rede auch wirklich ganz allein geschrieben, kleine alte Frau? Und wie schön du das aufgesagt hast, fast ohne zu stottern. Für einen Moment habe ich Angst, sie könnte sich zu sehr ermuntert fühlen und würde gleich weitermachen. Zugabe, Zugabe. Halt uns noch ’ne Rede, kleine Bräutigamsmutti! Aber Paula ist schon zur Stelle, sie fasst sie am Arm, nickt ihr lächelnd zu und flüstert ihr was Liebes ins Ohr, wahrscheinlich: Jetzt setz dich schon hin!, wasdiese auch tut, dann gibt Paula dem Mann am Klavier, der wieder zu Klimpern angefangen hat, ein energisches Zeichen, damit aufzuhören. Er tut es. Kluger Junge. Sie hat es drauf. Respekt.
»Bevor ich jetzt das Buffet eröffne«, sagt sie, und schon stehen die ersten auf oder rufen: »Hört, hört!« und »Jetzt gibt’s was zu essen« und »Keine langen Reden!«
»Nein, keine langen Reden mehr«, sagt Paula. »Ich möchte das Brautpaar jetzt bitten, die Torte anzuschneiden.« Und schon rollt jemand einen kleinen Tisch heran, auf dem die Hochzeitstorte steht: konventionell in Weiß und Rosa mit viel Zucker, Marzipan in Rosenform, dreistöckig, die heilige Dreieinigkeit symbolisierend oder Vater, Mutter, Kind oder Glaube, Liebe, Hoffnung. Zucker, Eier, Mehl. Obendrauf das Brautpaar. Gerüchteweise soll Paula wochenlang nach einer Firma gesucht haben, die Fotos vom Brautpaar auf die Gesichter der Brautpaarfiguren drucken kann. Und sie hat sie gefunden. Das sieht jetzt ein bisschen gruselig aus.
Petra und Gregor sind aufgestanden, Paula reicht ihm ein riesiges Kuchenmesser, die silberne Hochzeitsmachete von Großmutter vielleicht, es entsteht ein kleines Handgemenge. Das Brautpaar muss die Torte ja gemeinsam anschneiden – da stellt sich schon früh die Frage, wer das Messer halten darf. Und wer die Hand führt, die das Messerhält. So lang ist der Griff ja auch nicht, dass da beide Platz hätten, oder wenn doch, wer vorn und wer hinten festhält. Jetzt hat der Bräutigam seine kleine Braut vor sich bugsiert und umarmt sie. Der große starke Hengst, der der schlanken Blondine auf dem Golfplatz das Einlochen zeigt. Petra hält die Machete mit beiden Händen und er ihre beiden Hände. Und Paula steht sprungbereit daneben, falls was rutscht, fällt oder jemand verletzt wird. Als der erste Schnitt von oben bis unten durch ist, klatscht sie in die Hände und die Gäste applaudieren. Ich löffle klappernd mein Puddingschälchen leer und drücke es Manuela in die Hand. Sie stellt es auf den Tresen.
»Bin ich deine Dienerin?«, fragt sie.
»Nein, meine Kellnerin«, antworte ich.
»Ich bring’s gleich weg.«
Rolf zieht das Schälchen vom Tresen und stellt es hinter sich. »Wie sieht denn das aus?«, fragt er.
»Jetzt fang du auch noch an«, sage ich.
»... ist eröffnet«, ruft Paula in die nun lärmende Menge. Ich gehe um den Tresen herum, greife nach dem Glasschälchen und mache, dass ich in die Küche komme, damit ich von der ausgehungerten Menschenmenge nicht totgetreten werde. Als ich zurückkehre, sind Rolf und Manuela am Zapfen und stellen Bier um Bier auf den Tresen. Paula fischt den Klavierspieler aus der Schlange am Buffett und kommandiert ihn mit halbvollem Teller zurück ansein Instrument. Er setzt sich, intoniert traurig ein »Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, haben Hunger, Hunger, Hunger ...«, dann bekommt er von Paula ein Stückchen Torte und einen strengen Blick und geht klimpernd zu den weichen Jazzstandards über, die beim Essen nicht stören.
»Ich hätte gern«, sagt der Mann neben mir zu Rolf, »ich hätte gern was mit Kohlensäure.«
Rolf ist baff.
»Wasser?«, fragt er schließlich. »Bier, Champagner?«
Der Mann neben mir grinst. »Na, Bier«, sagt er. Dann wendet er sich mir zu. »Klaus«, sagt er, »ich hab mir mal deine Homepage angeschaut.«
Wo soll ich anfangen? Der Mensch ist einsachtzig, dünn, wäre er eine Frau, würde man sofort an Auweia-Bulimie denken, aber er ist einfach nur einsachtzig, dünn, nicht mal ansatzweise sportlich muskulös, hat eher die Optik eines unheilbar Kranken, bestimmt irgendeine Stoffwechselstörung, rotblondes Haar, strenges Kinn, strenger Blick (uhrzeitbedingt schon etwas
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