Anständig essen
unser Mitgefühl ist nicht jederzeit abrufbar, sondern wird nur bei auserwählten Gegenübern und in bestimmten Situationen angeknipst.
Bei dem einen Unglückswurm lassen wir uns zum Mitleid hinreißen und beim nächsten, dem es mindestens genauso schlecht geht, finden wir, dass das ganz allein sein Problem sei. Dies ist keine absichtsvolle, kontrollierte Entscheidung, sie wird überwiegend im Unbewussten gefällt und hängt nur zum Teil von den äußeren Umständen ab. Halb drängt es uns, halb wollen wir auch. Oder eben nicht. Wenn wir bereit dazu sind, und wenn uns ein Schriftsteller geschickt um den Finger zu wickeln versteht, können wir sogar über jemanden, den es gar nicht gibt, über die erfundene Figur in einem Roman, Tränen vergießen. Und wenn wir nicht bereit dazu sind, so steht neben uns ein Lebewesen undschreit vor Angst und Schmerz, und wir entschließen uns, dass das keine Bedeutung hat oder sogar ein großes Vergnügen ist. Im Mittelalter kam es vor, dass eine Stadt einer anderen das Recht abkaufte, einen zum Tode Verurteilten hinzurichten, um den eigenen Bürgern auch mal etwas für ihre Steuergelder zu bieten. Eine Volksbelustigung im Paris des 16. Jahrhunderts bestand darin, zur Sonnenwendfeier ein Netz voller Katzen langsam in ein Feuer hinabzusenken. Das Publikum soll vor Lachen gekreischt haben, wenn die Katzen zu schreien anfingen. Was die Gegenwart betrifft, so kenne ich nette alte Damen, die die Nacktschnecken in ihrem Garten eigenhändig und mit großer Befriedigung mittels einer Küchenschere in der Mitte durchschneiden. Wann, wie und warum wir die Schwelle zum Mitleid überschreiten, darüber denkt die Wissenschaft noch angestrengt nach.
In einem berühmten Experiment von 1970 wurden Theologiestudenten zu einem Gebäude geschickt, um dort einen Vortrag zu halten. Die eine Hälfte sollte über »den barmherzigen Samariter« sprechen, also über Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe, die andere Hälfte über Karrierechancen für Theologen. Einem Drittel der Studenten wurde gesagt, sie hätten für den Weg alle Zeit der Welt, dem zweiten Drittel, es würde knapp, und dem letzten Drittel, sie seien jetzt schon zu spät dran. Auf dem Weg zum Gebäude trafen alle Versuchspersonen auf einen scheinbar hilfsbedürftigen Mann, der stöhnend auf dem Boden saß.
Von den Studenten ohne Zeitnot halfen 63 Prozent, von denen, die knapp dran waren, 45 Prozent und von denen, die glaubten, zu spät dran zu sein, nur noch jeder Zehnte. Das Thema des Vortrags hatte keinen Einfluss auf das Verhalten der Studenten. Erstaunlicherweise hängt Mitgefühl also stark davon ab, wie viel Zeit man gerade hat, während es egal zu sein scheint, wie viel Zeit man zuvor damit verbrachte, über das Thema Mitgefühl nachzudenken.
Neben dem Vorhandensein von ausreichenden Zeitreserven gibt es noch weitere Faktoren, die die Entstehung von Mitgefühl begünstigen, zum Beispiel räumliche, zeitliche und soziale Nähe. Wenn in einem abgestürzten Flugzeug jemand saß, der aus demselben kleinen Ort stammte wie man selbst, kommt einem das immer besonders schlimm vor. Jemand, der uns ähnelt oder derselben sozialen Klasse angehört, den wir kennen und schätzen oder der womöglich sogar mit uns verwandt ist, hat gute Chancen auf unser Mitgefühl, besonders, wenn er in genau diesem Moment direkt vor unseren Augen leidet. Schlechte Karten also für Tiere aus industriellen Mastanlagen. Ihr Leiden findet hinter Mauern und Wellblechwänden statt. Eventuell haben wir davon in der Zeitung gelesen, aber auch das ist schon länger her. Mit eigenen Augen haben wir es jedenfalls nicht gesehen. Und besonders ähnlich sind sie uns auch nicht. In der Form, in der sie im Supermarkt auftauchen, ähneln sie ja noch nicht einmal sich selbst. Außerdem stehen Hausfrauen im Supermarkt meistens unter Zeitdruck.
Hinderlich für die Entstehung von Empathie ist es auch, wenn die Bedürfnisse des Gegenübers mit unseren Interessen kollidieren.
Ein paar Jahre lang war ich Mitglied in der Interessengemeinschaft (sic!) der Schweinehalter Nord-Westdeutschlands (ISN ). Zwar besaß ich gar kein Schwein, aber dank dieser Mitgliedschaft konnte ich das Flüssiggas für meine Heizanlage nahezu zum halben Preis beziehen. Außerdem erhielt ich regelmäßig ein Informationsheft, das mir die Sorgen, Nöte und Freuden diesesBerufszweiges näherbrachte. Die ISN ist keine unsympathische Gruppe, hat sie sich doch einmal gegründet, um sich gegen das Unrecht der
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