Anständig essen
sich um Extremzuchten handelt, die jeden Tag 6,5 % ihres Eigengewichts zunehmen, was ungefähr einem zehnjährigen menschlichen Kind entspricht, das Tag für Tag 2 kg fetter wird. Dass das Wachstum der Beinknochen nicht mit dem Wachstum der Muskeln Schritt halten kann, sodass Hähnchen immer früher geschlachtet werden müssen, weil bereits nach 40 Tagen ein Drittel von ihnen lahm geht? Wie sehr ich mich auch darum bemühe, mein Versagen zu rationalisieren, letztlich läuft es doch bloß darauf hinaus, dass ich mich selbstsüchtig verhalten habe.
Die Grausamkeiten, Gemeinheiten und Rücksichtslosigkeiten, die Menschen wie ich jeden Tag begehen, sind die Folgen eines biologischen Prinzips, das wir mit allen anderen Spezies auf diesem Planeten teilen, dem Prinzip Eigennutz. Wir wollen das Beste für uns – wenn es sein muss, gern auch auf Kosten anderer. Parasiten nisten sich in den Därmen von Kühen ein, ohne sich darum zu scheren, wie sehr das den Organismus der Kuh schwächt. Kühe, so sie denn mal auf einer Wiese stehen, zermalmen bedenkenlos Gräser. Und Menschen feiern Grillpartys und verkaufen Hedgefonds und betrügen ihre Ehepartner. Alles, weil sie sich einen Vorteil davon versprechen. Eine Spezies, die nicht ihren Vorteil sucht, ist zum Aussterben verurteilt. Selbst die Empathie – also die Fähigkeit, sich in andere Lebewesen hineinzuversetzen – hat sich ursprünglich einmal entwickelt, um andere auszutricksen oder zu manipulieren. Ein geschickter Fallensteller weiß, womit er das Tier, das er fangen will, am besten anlockt. Ein kluges Kind merkt, wenn seine Eltern in so guter Laune sind, dass sich die Frage nach einer Taschengelderhöhung lohnen könnte. Undein guter Heiratsschwindler weiß nicht nur, was Frauen allgemein gern hören, sondern findet instinktiv auch die jeweiligen individuellen Schwachstellen heraus, um dann auf der Klaviatur von Schuldgefühlen, Mutterinstinkten oder Unterlegenheitsgefühlen zu präludieren. So weit, so vorteilhaft. Aber manchmal, wenn wir in die Haut eines anderen schlüpfen, passiert es, dass wir plötzlich seine Empfindungen teilen. Aus Empathie wird Mitgefühl. Etwa, wenn neben uns jemand so herzzerreißend weint, dass wir uns des Mitleids nicht erwehren können. Oder einem guten Freund ist so übel mitgespielt worden, dass wir gar nicht anders können, als mit ihm zu leiden und seine Sicht der Dinge zu übernehmen.
»Was? Sie hat dich betrogen, während du extra Vaterschaftsurlaub genommen hast und zu Hause geblieben bist? Und sie hatte ihr Handy ausgestellt, obwohl der Kleine gerade krank war? So ein Miststück!«
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe Empathie und Mitgefühl schlampigerweise oft gleichgesetzt, als gäbe es keinen Unterschied zwischen der Fähigkeit, sich in jemanden einzufühlen, und dem Impuls, etwas gegen dessen Leid zu unternehmen. Auch ein Sadist ist emphatisch, wenn er sich überlegt, was sein Opfer so richtig quälen wird. Wer Mitgefühl empfindet, ist hingegen am Wohlergehen der anderen Person interessiert, was nach den Gesetzen der Evolution eigentlich eine Dummheit ist. Schließlich könnten wir dabei die eigenen Interessen aus den Augen verlieren. Raubtiere und Heiratsschwindler müssen wissen, wie ihre Beute »tickt«, aber sie können es sich nicht leisten, Mitleid zu empfinden. Und wenn ich mir beim Supermarkteinkauf vorstelle, was das abgepackte Fleisch in der Aluminiumschale vorher alles ertragen musste – die Hölle, die ein kleiner, viel zu schnell wachsender Körperin der Massenaufzucht durchgemacht hat, seine Angst beim Schlachten, sein Schmerz –, trickse ich mich im Grunde selber aus. Womöglich wiegt das Leid des Masthähnchens auf einmal schwerer als mein Wunsch nach gebratenem Fleisch. Und was habe ich davon? Na also.
Etwas so Nutzloses hätte sich niemals entwickeln können, hätte sich altruistisches Verhalten unter sozial lebenden Tieren nicht auf lange Sicht doch als Vorteil erwiesen. Einer hilft dem anderen, und schon geht’s der ganzen Horde besser. Besonders sozial – wenn er will – ist der Mensch. Das Wort »Menschlichkeit« benutzen wir sogar als Synonym für mitfühlendes, barmherziges, altruistisches Verhalten. Dass wir den Namen unserer Spezies mit der Neigung zu Mitgefühl gleichsetzen – so als wären wir die Einzigen, die dazu fähig sind, und als käme Eigensucht und Grausamkeit für den Homo sapiens gar nicht infrage, hat natürlich mehr mit Wunsch als mit Wirklichkeit zu tun.
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