Anständig essen
erstaunt zu mir hoch, weil ich plötzlich nicht mehr neben ihr sitze, sondern hinter der Bank stehe. Außer mir zeigt kein Mensch auch nur den Ansatz einer Reaktion. Das Kind, das gleich seinen Platz in der Nahrungskette finden wird, rüttelt immer noch am Absperrgitter. Erfreulicherweise steht der Mann der Dompteurin in der Nähe. Er hat ebenfalls eine Peitsche dabei, und damit schlägt er auf die verhedderten Löwen ein. Das Knäuel löst sich auf, und die Raubkatzen flüchten in großen Sprüngen in die Manege. Leicht errötend, setze ich mich wieder hin. Beate will sich über meine Feigheit kaputtlachen.
Nach einigen Widersetzlichkeiten nehmen auch die Raubkatzen ihre Plätze ein. Das heißt sie flegeln und lümmeln sich kreuz und quer auf die in der Manege verteilten Podeste und geben allein schon durch ihre Haltung zu verstehen, dass sie keine Zirkusstars werden wollen. Dabei ist es weiß Gott nicht viel, was die Dompteurin von ihnen verlangt – das müsste auch der strengste Tierschützer zugeben. Eigentlich wird von ihnen nicht mehr verlangt, als von ihrem Podest herunterzukommen, ein dreistufiges Treppchen hinauf- und wieder hinunterzugehen, einen knappen Meter weit von einem Podest zum anderen zu springen oder sich mal kurz auf die Hinterbeine zu setzen und mit den Pfoten nach einem Fleischbrocken zu schlagen. Von einem Elektroschocker ist weit und breit nichts zu sehen, und jedes ihrer lustlos und schlampig ausgeführten Kunststücke wird sofort mit einem fetten Brocken Rindfleisch belohnt. Egal. Die Löwinnen haben einfach keine Lust, und die einsame Tigerin mittendrin auch nicht.
»Mann, sind das Schlafmützen«, sage ich.
»Es ist ja aber auch so heiß«, meint Beate.
»In Afrika ist es auch heiß. Außerdem haben die doch schon den ganzen Tag rumgehangen, da können die sich doch mal für eine halbe Stunde zusammenreißen.«
Die Löwinnen fauchen schon gereizt, wenn sie bloß vom Podest herunterkommen sollen. Selbst die Futterbrocken nehmen sie nur genervt entgegen. Die Dompteurin erklärt dem Publikum, dass es drei Jahre dauert, einen Löwen fertig auszubilden, und ist weiterhin freundlich und geduldig. Ab und zu knallt sie mit der Peitsche in die Luft, um wenigstens kurzzeitig die Aufmerksamkeit der Tiere zu bekommen, ansonsten stupst sie sie bloß mit dem Peitschenende an und versucht, sie verbal zu motivieren.
»Shanti auf den Platz! Auf den Platz, sag ich. Shanti auf den Platz! Shanti! Gehst du auf den Platz!«
Shanti legt eine Pfote auf das Podest und faucht. Ehrlich gesagt, halte ich es inzwischen für ziemlich wahrscheinlich, dass es Raubtier-Dompteure gibt, die mit Elektroschockern arbeiten. Nicht, dass ich es billigen würde, aber ich ahne ihre Beweggründe. Die Löwinnen erinnern mich an die arbeitslosen und schwer vermittelbaren deutschen Jugendlichen, über die ich neulich einen Fernsehbericht gesehen habe. Ein Personalchef fragte nach ihren Hobbys, und eines der Mädchen antwortete: »Shoppen und Chillen.«
Der Löwe ist das Chill-Tier überhaupt. In freier Wildbahn verpennt er bis zu 20 Stunden des Tages, und die übrige Zeit liegt er meistens auch bloß rum. Eine dermaßen faule Spezies ins Showbizz zwingen zu wollen, ist eine Schnapsidee. Man dressiert ja auch keine Regenwürmer.
»Die wollen das nicht«, sage ich zu Beate. »23 Stunden rumhängen am Tag ist denen nicht genug. Die wollen 24 Stunden rumhängen.«
»Das schöne Rindfleisch«, sagt Beate, »das scheint die überhaupt nicht zu interessieren.«
»Warum studieren die nicht lieber ’ne Nummer mit Pudeln ein? Oder mit Ponys. Ponys sind verfressen.«
»Wie Pepe«, sagt Beate, »der würde für ein Stück Brot notfalls auch einen Kopfstand machen.«
Pepe ist mein kleiner Maulesel. Irgendwann habe ich mal den Fehler gemacht, ihm Pfötchengeben beizubringen und ihn dafür mit Brot zu belohnen. Seitdem knallt er einem bei jeder Gelegenheit den Vorderhuf gegen das Schienbein.
Shanti, die endlich ihren Platz eingenommen hat, lässt sich nun im Zeitlupentempo mit dem Hintern wieder vom Podest rutschen. Die Dompteurin springt hinzu und nötigt die Löwin mit Peitsche und lauten Ermahnungen, sich wieder gerade hinzusetzen.
»Also ehrlich – meinetwegen müssen die nicht gerade sitzen«, sagt Beate.
»Nee«, sag ich, »meinetwegen auch nicht.«
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7
April – weiterhin vegetarisch
»Sie haben soeben zu Mittag gegessen; und wie sorgfältig auch immer das Schlachthaus in einer taktvollen Entfernung von einigen
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