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Anständig essen

Anständig essen

Titel: Anständig essen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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eine englische Fleischmafia, eine russische Fleischmafia, eine belgische Fleischmafia und eine deutsche Fleischmafia. Und das sind nur die, von denen ich gelesen habe. Vermutlich haben alle anderen Länder auch eine eigene Fleischmafia. Außer Monaco vielleicht. Wusstest du, dass die belgische Fleischmafia 1995 einen Tierarzt von einem Auftragskiller hat umbringen lassen, weil der Hormonhändlern auf die Schliche gekommen war?«
    »Ich geh ins Bett und les ein Buch. Ich kann jetzt nicht noch mehr solche Storys hören«, sagt Jiminy. »Gute Nacht.«
    Ich kann mal wieder nicht schlafen. In letzter Zeit passiert mir das öfter. Vielleicht liegt es am Fleischentzug.Oder am Husten. Auch Bulli fehlt mir immer noch entsetzlich. Ich kann mich überhaupt nicht daran gewöhnen, dass er beim Autofahren jetzt nicht mehr auf dem Beifahrersitz liegt und mit der Schnauze den Schaltknüppel blockiert. Wenn ich so wach liege und ins Dunkel starre, denke ich daran, was jetzt gerade überall auf der Welt in den Mastbetrieben, Schlachthäusern und Versuchslaboren passiert. Von all den bestürzenden Entdeckungen, die man im Laufe seines Lebens so macht – die Eltern sind doch nicht perfekt, Liebe ist vergänglich und ich werde wahrscheinlich nie in einem offenen Sportwagen durch Paris fahren und meine langen Haare im Wind wehen lassen –, war diese die schlimmste: dass sich hinter der hellen, freundlichen Welt der Supermärkte und Apotheken eine mitleidlose, düstere Fabrik des Leidens verbirgt, eine Hölle, in der die Tiere die gequälten Seelen sind und die Menschen die Teufel, die sie foltern. Es ist, als hätte ich diese Wahrheitspille aus dem Film »Matrix« geschluckt. ›Hier sind zwei Pillen, entscheide dich. Nimmst du die blaue, dann bleibt alles, wie es ist; du glaubst, was du glauben willst, brauchst nicht zur Kenntnis zu nehmen, welche Folgen dein Konsumverhalten für andere Menschen und Tiere hat, und niemand wird dir deswegen Vorwürfe machen. Nimmst du die rote, dann erfährst du, wie es wirklich ist. Alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit, nicht mehr. Ich sage nicht, dass es für dich leicht wird, nur, dass es die Wahrheit ist. Und wenn du dich einmal dafür entschieden hast, gibt es kein Zurück.‹
    Ich begreife auf einmal sehr gut, warum die meisten Menschen sich für die blaue Pille entscheiden.
    Während ich krank bin, zappe ich mich ganze Nachmittage durch die Fernsehkanäle und schaue mir im Fieberwahn eine Tierdokumentation nach der anderen an. Über 79 Millionen verschiedene Spezies leben auf der Erde, aber in meinem Fernseher laufen komischerweise fast immer bloß Dokus über Haifische, Krokodile oder afrikanische Großkatzen, die Zebras und Antilopen zerfleischen. Oder über Killerwale.
    Zuerst sieht man zwei Killerwale in Freiheit große Sprünge machen, dann Schnitt, und in der nächsten Einstellung plätschert ein offenbar angeschlagener Wal mit stumpfer Haut und schlapper Rückenflosse in einer Bucht. Es ist eine alte Aufnahme von Keiko, der in »Free Willy« die Hauptrolle spielte. Über 20 Millionen Dollar Spendengelder wurden für seine Auswilderung ausgegeben, für Hubschrauber und Betreuer und Aufpäppelungsbecken, aber am Ende starb er trotzdem an einer Lungenentzündung. Es gibt Umweltschutzorganisationen, die sich darüber aufregen, dass so viel Geld für ein einzelnes Tier ausgegeben wurde, wo man doch Hunderte anderer Meeressäuger damit hätte retten können. Ich finde es okay. Ich finde es auch richtig, wenn man 20 Millionen ausgibt, um 5 Bergleute aus einem verschütteten Schacht zu holen, obwohl man mit dem Geld tausende Kinder in Krisengebieten vor dem Hungertod retten könnte. Ich finde es sogar in Ordnung, wenn man 20 Millionen ausgibt, um einen Spielfilm über außerirdische Trolle und Gnome zu drehen. Nachdem das Schicksal des alten Hollywood-Wals von allen Seiten beleuchtet worden ist, sieht man wieder die zwei Killerwale in freier Wildbahn. Hei, wie gut es denen geht. Die Rückenflossen steil aufgerichtet, durchpflügen sie eines der vielen Weltmeere. Sie sind nämlich auf der Jagd. Ein paar Einstellungen später haben sie ein Blauwalkalb erwischt und versuchen es zu ertränken, indem sie es mit ihren kerngesunden Körpern unter Wasser drücken. Jedes Mal, wenn sie sich aus dem Wasser schwingen, um sich auf das Kalb fallen zu lassen, sieht man ihre glänzende Haut. Der Todeskampf dauert sechs Stunden. Sechs Stunden lang allmählich ertrinken. Das muss man sich mal vorstellen.

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