Anständig essen
Wynne beförderten durch das Foltern von Hunden ihre akademischen Karrieren und fanden viele Nachahmer. Erst nach 30 Jahren derartiger Experimente kam man zu dem Schluss, dass das Depressionsmodell der erlernten Hilflosigkeit, das die Shuttle-Box beweisen sollte, einer Überprüfung nicht standhielt.
»Tiere quälen gilt bei Kindern als Zeichen von Verhaltensauffälligkeit«, sage ich zu Jiminy, »ein Zeichen von fehlender Zuneigung und emotionaler Bildung und Bindung. Aus Sicht der Psychologie wären Versuchslabore also eine institutionalisierte Störung des Sozialverhaltens. Wer emotional seine fünf Groschen beieinanderhat, tut so etwas einem kleinen, freundlichen Hund nicht an. Auch nicht, wenn er dafür Geld kriegt.«
»Nun trink deinen Tee, ehe er kalt wird.«
Im Nachbardorf logiert seit Wochen eine Raubtiergruppe aus einem Zirkus auf dem Gelände eines etwas heruntergekommenen Gutshofes. Und weil das Wetter immer noch so schön ist, gibt es am Wochenende eineVorführung unter freiem Himmel. Jiminy musste zurück nach Berlin, aber Beate erklärt sich bereit, mit mir hinzugehen. In einem Flugblatt des Vereins »Die Tierbefreier« habe ich gelesen, dass es eine Raubtiernummer ohne Folter und Angst, ohne Stromschlaggerät oder Dreizack kaum gebe. Nun kann ich mir ja selbst ein Bild machen.
Es handelt sich um vier halbwüchsige Löwinnen und eine junge Tigerin. Die Raubkatzen sind nicht in ihre vergitterten Zirkuswagen gesperrt, sondern dösen in einem großen Gehege in der Sonne und sehen ziemlich zufrieden aus. Die Tigerin sitzt allerdings doch in ihrem Käfigwagen.
»Ach, sind die schön«, sagt Beate, »das sind doch die schönsten Tiere, die man sich vorstellen kann. Kuck dir nur das Fell des Tigers an.«
Wir gehen zu der Manege, die ein paar Meter neben dem Gehege aufgebaut ist, und setzen uns auf eine provisorische Bank aus Holzklötzen und einem Brett. Viele Zuschauer sind nicht gekommen, gerade mal fünfzehn. Eine Dompteurin mit Peitsche in der Hand betritt das Gehege, geht von Löwin zu Löwin und zur Tigerin und schmust mit ihnen herum. Die lassen sich gern beschmusen und reiben ihre Köpfe am Gesicht der Dompteurin. Beate ist hin und weg.
»Wie meine Muffin.«
Muffin ist Beates Katze.
Die Manege ist mit dem Gehege durch einen Laufgang verbunden. Im Zirkus besteht so ein Laufgang normalerweise aus soliden Metallstäben. Hier ist es bloß ein provisorisches Gestell, über das so etwas wie ein Fischernetz geworfen wurde. Ich finde das beunruhigend. Wie verhält man sich, wenn fünf Löwen und ein Tiger ausbrechen? Mit der panischen Zuschauermenge wegrennen oder absichtlich langsam in eine ganz andere Richtung gehen, um die Jagdinstinkte nicht zu wecken? Aber suchen Löwen sich nicht immer genau das Tier aus, das sich zu weit von der Herde entfernt hat – ein altes, krankes Tier, das nicht mehr mithalten kann, oder ein unvorsichtiges Junges?
Ein dickes Kleinkind ist bis zu der kniehohen Absperrung vor der Manege gewatschelt und rüttelt daran, bis es die Aufmerksamkeit einer Löwin auf sich gelenkt hat. Die leichtsinnige Mutter steckt sich gerade eine Zigarette an. Wenn die Raubkatzen ausbrechen, werden sie sich diesen dicken kleinen Klops schnappen, da bin ich mir sicher. Die Mutter inhaliert voller Genuss. Die Leute sind so daran gewöhnt, dass sie diejenigen sind, die die Tiere anstarren – im Zoo, im Zirkus, im Fernsehen, in Bildbänden –, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen können, es könne auch eine Bedeutung haben, wenn Tiere uns beobachten. Immer verlassen sie sich darauf, dass alles gut ausgeht. Wenn eine Mutter noch nicht mal beunruhigt ist, wenn ihr Kind von einer Löwin fixiert wird, wie soll man dann erwarten, dass sich die Menschheit wegen der globalen Erwärmung sorgt? Die merken es ja noch nicht einmal, wenn die Klimakatastrophe bereits da ist. Nichts gegen die sommerlichen Temperaturen, die wir jetzt schon im April haben. Aber in Rio de Janeiro gab es gerade die heftigsten Regenfälle seit 40 Jahren – 95 Tote durch Erdrutsche und Überschwemmungen.
Die Dompteurin knallt mit der Peitsche, um die Raubkatzen in die Manege zu treiben, und die Löwinnen ducken sich gereizt und fauchen faul. Äußerst widerwillig traben sie in den Laufgang. Auf halbem Weg überlegen es sich die ersten beiden wieder anders, drehen um und verheddern sich prompt im Netz. Die nächste Löwinnimmt das zum Anlass, auf sie draufzuspringen, und nun droht die ganze Stellage umzukippen. Beate sieht
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