Anthrax
Möglichkeit bog der Fahrer links ab und fuhr die Central Park West hinauf in Richtung Norden. Da das Haus, in dem Jack wohnte, keine Hausnummer hatte, mußte Laurie dem Fahrer zeigen, wo sie aussteigen wollte.
»Wollen Sie hier wirklich aussteigen, Miss?« erkundigte er sich, nachdem sie bezahlt hatte. »Die Gegend ist nicht ganz ungefährlich.«
Laurie versicherte ihm, daß sie zurechtkomme, und stieg aus. Auf dem Bürgersteig blieb sie kurz stehen und betrachtete die Fassade des Gebäudes. Es sah so traurig aus wie eh und je; von dem schmuckvollen Gesims existierte nur noch ein kleines unbeschädigtes Stück, im dritten Stock waren zwei Fenster mit Brettern zugenagelt.
Jedesmal, wenn sie Jack besuchte, fragte sie sich, warum er immer noch nicht umgezogen war. Daß er wegen des Basketballs in der Umgebung bleiben wollte, konnte sie ja verstehen; aber ein etwas wohnlicheres Gebäude konnte er sicher auch in diesem Viertel finden.
Die Eingangshalle sah noch schlimmer aus als die Fassade. Mit dem Mosaikboden und den in Marmor gehaltenen Wänden mußte sie irgendwann mal etwas hergemacht haben; doch inzwischen war davon röcht mehr viel übrig. Mehr als die Hälfte der Mosaiksteine fehlten und die Wände waren mit Graffiti beschmiert. Keiner der Briefkästen verfügte über ein funktionierendes Schloß, in den Ecken lag Müll herum.
Die Klingel ließ sie gleich links liegen; sie funktionierte sowieso nicht. Das Schloß der Innentür war bei einem Einbruch geknackt und nie repariert worden, so daß die Tür immer offenstand.
Je höher sie die Treppe hinaufstieg, desto mehr schwand ihre Entschlossenheit. Immerhin war es spät, und sie hatte ihren Besuch weder telefonisch angekündigt, noch war sie eingeladen. Außerdem war sie gar nicht mehr so sicher, ob sie über den Abend mit Paul sprechen wollte, bevor sie allein und in aller Ruhe darüber nachgedacht hatte. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock blieb sie stehen. Hinter der Wohnungstür brüllten sich ein Mann und eine Frau an. Sie erinnerte sich, daß Jack ihr mal von dem endlosen Streit seiner Mitbewohner erzählt hatte. Die Vorstellung, daß zwei Menschen so schlecht miteinander zurechtkamen, machte sie traurig.
Sie überlegte, ob sie wirklich weitergehen sollte. Erst als sie sich vor Augen hielt, wie sie sich selber fühlen würde, wenn Jack plötzlich vor ihrer Wohnungstür stünde, weil er eine Freundin zum Reden brauchte, kletterte sie entschlossen weiter. Sie würde sich geschmeichelt fühlen, da war sie sich ganz sicher. An seiner Tür angelangt, klopfte sie laut.
Eine Klingel gab es nicht.
Als die Tür schwungvoll aufging, konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Jack machte so große Augen, daß er ihr mit seiner übertriebenen Gestik und dem stoppelbärtigen Gesicht wie ein Pantominedarsteller vorkam. Er trug Boxershorts, ein T-Shirt mit V-Ausschnitt und offene Schlappen. In der Hand hielt er ein medizinisches Fachbuch. Mit Besuch hatte er offensichtlich nicht gerechnet, von Warren oder einem seiner Basketballkumpels vielleicht abgesehen.
»Laune!« rief er, als sei sie eine Vision. Laurie nickte nur.
Sie sahen sich eine Weile an und sagten nichts. »Darf ich reinkommen?« fragte sie schließlich. »Natürlich«, erwiderte Jack ein wenig verlegen, weil er sie nicht sofort hereingebeten hatte. Er trat zur Seite. Als er die Tür schloß, fiel ihm auf, wie wenig er anhatte. Er huschte ins Schlafzimmer und zog sich eine kurze Hose über. Laurie betrat das spärlich möblierte Wohnzimmer, in dem es lediglich ein Sofa, einen Sessel, ein aus Backsteinen und Holzbrettern konstruiertes Bücherregal und ein paar kleine Beistelltische gab. An den Wänden hingen weder Bilder noch Fotos. Neben dem Sofa, auf dem Jack offenbar gesessen und gelesen hatte, brannte eine Stehlampe. Der Rest des Raums lag im Dunkeln. Auf einem der Beistelltische stand eine geöffnete Flasche Bier. Auf dem Fußboden lag ein aufgeschlagenes Medizinlexikon.
Ein paar Sekunden später kam Jack zurück. Er stopfte sich im Gehen sein Hemd in die Khaki-Shorts und sah aus, als ob er sich entschuldigen wollte.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Laurie. »Es ist schon ziemlich spät.«
»Du störst überhaupt nicht«, versicherte Jack. »Im Gegenteil. Ich freue mich über deinen Überraschungsbesuch. Soll ich deinen Mantel aufhängen?«
»Ja, bitte«, erwiderte Laurie. Sie zog ihn aus und reichte ihn Jack, der schnurstracks zur Garderobe eilte. »Möchtest du ein Bier?« fragte
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