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Anthrax

Anthrax

Titel: Anthrax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Cook
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benahmen.
    Nach seinem vergeblichen Versuch, Curt Rogers und Steve Henderson auf der Feuerwache an der Duane Street einen Besuch abzustatten, hatte sich Yuris Tag schließlich doch noch zum Guten gewendet. Da er bald in sein geliebtes Rußland zurückkehren würde, hatte er sich zur Feier des Tages etwas Besonderes gegönnt: Er war in ein kleines russisches Restaurant eingekehrt, hatte es sich an einem Tisch gemütlich gemacht und sich heißen Borschtsch und ein Glas Wodka zu Gemüte geführt. Daß er mit dem Eigentümer auf russisch hatte plaudern können, hatte seine Stimmung noch mehr angehoben, wenngleich es ihn auch immer ein bißchen melancholisch stimmte, sich in seiner Muttersprache zu unterhalten.
    Nach dem Mittagessen hatte er überwiegend Fahrgäste gehabt, die ganz in Ordnung gewesen waren. Sie hatten sich im großen und ganzen zurückgehalten – bis auf diesen letzten Gast auf der Fahrt vom La Guardia Airport nach Manhattan.
    Yuri stand vor einer roten Ampel an der Park Avenue. In der Hoffnung, vielleicht ein paar Fahrgäste aus den Hotels der gehobenen Klasse aufzulesen, wollte er zur Fifth Avenue fahren, doch in diesem Moment trat eine ältere Frau mit Kopftuch zwischen den parkenden Autos hervor und hob die Hand. Als die Ampel auf Grün umsprang, bog Yuri an den Rand und ließ die Frau einsteigen. »Wohin möchten Sie?« fragte er und musterte die Frau im Rückspiegel. Ihre Kleidung wirkte praktisch und abgetragen, aber nicht zerschlissen. Eigentlich sah sie eher so aus, als ob sie normalerweise die U-Bahn benutzte. »West 10th Street, Nummer einhundertundsieben«, erwiderte die Frau. Sie sprach mit einem noch deutlicheren Akzent als Yuri. Er wußte sofort, daß sie aus Estland stammte, was bei ihm gemischte Gefühle aufkommen ließ. Zunächst schwiegen sie beide. Zum ersten Mal an diesem Tag war Yuri versucht, von sich aus eine Unterhaltung mit einem Fahrgast zu beginnen. Er musterte die Frau immer wieder im Spiegel. Irgend etwas an ihr kam ihm vertraut vor. Sie hatte sich gemütlich zurückgelehnt, die großen Hände hielt sie gefaltet im Schoß. Ihre entspannten bäuerlichen Gesichtszüge, ihre kleinen funkelnden Augen und das zaghafte Lächeln, das ihre Lippen umspielte, strahlten eine starke innere Ruhe aus. »Sind Sie Estin?« fragte er schließlich.
    »Ja«, bestätigte die Frau. »Und Sie kommen sicher aus Rußland?«
    Yuri nickte und beobachtete, wie die Frau reagierte. Nach all den Jahren der Besatzung waren Ressentiments gegen Russen in Estland weit verbreitet. Yuri fürchtete, daß die Vorurteile der Frau gegenüber Rußland bestimmt viel ausgeprägter waren als seine eigenen Vorbehalte gegenüber den Esten. Während seiner Odyssee nach Amerika war es ihm in Estland zwar ganz schön dick eingegangen; doch er hatte auch ein paar nette, großzügige und hilfsbereite Menschen kennengelernt.
    »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte die Frau ohne jeglichen Groll in der Stimme. »Seit 1994«, erwiderte Yuri. »Sind Sie mit Ihrer Familie hergekommen?«
    »Nein«, brachte Yuri hervor. Seine Kehle war mit einem Mal ganz trocken. »Ich bin allein eingewandert.«
    »Das muß schwierig für Sie gewesen sein«, stellte die Frau verständnisvoll fest. »Bestimmt waren Sie sehr einsam.« Die simple Frage der Frau und ihre Reaktion auf seine Antwort verursachten bei Yuri einen gewaltigen Gefühlsausbruch. Gleichzeitig schämte er sich* dafür, daß er seine Familie verlassen hatte, obwohl er in Wahrheit kaum jemanden zurückgelassen hatte. Das Gefühl von toska, mit dem er schon früher zu kämpfen gehabt hatte, machte sich mit aller Macht in ihm breit. Auf einmal wurde ihm klar, warum die Frau ihm so bekannt vorkam. Sie erinnerte ihn an seine Mutter, auch wenn ihre Gesichter sich stark voneinander unterschieden. Es war weniger das Aussehen der Frau als ihre Ausstrahlung, vor allem ihre ansteckende Gelassenheit, die bei ihm Erinnerungen an seine Mutter wachriefen.
    Yuri dachte nicht oft an sie. Es schmerzte ihn zu sehr. Nadya Davydov hatte Yuri und seinen jüngeren Bruder Yegor geliebt und die beiden, so gut sie konnte, vor den brutalen Züchtigungen ihres Vaters Anatoly Davydov beschützt, der schon bei den geringsten Anlässen hemmungslos zugeschlagen hatte. Von einer besonders schlimmen Tracht PRugel in seinem elften Lebensjahr hatte Yuri noch immer Narben auf der Rückseite seiner Oberschenkel. Er war damals in die vierte Klasse gegangen und gerade in die staatliche sowjetische Jugendorganisation

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