Anthrax
eingetreten. Zu der Uniform der jungen Pioniere gehörte eine rote Krawatte im Pfadfinderstil, die zusammen mit einer roten als Flagge geformten Krawattennadel getragen wurde, in die ein Porträt von Lenin eingearbeitet war. Irgendwie hatte Yuri die Krawattennadel auf dem Schulweg verloren, und als Anatoly das am Abend erfuhr, war er durchgedreht. Wie immer im Vollrausch – er trank gewöhnlich fast einen Liter Wodka pro Tag – hatte er so lange auf seinen Sohn eingedroschen, bis dessen Hose blutdurchtränkt gewesen war.
Meistens war es Nadya gelungen, Anatolys Wut während seiner allabendlichen Rauschanfalle auf sich zu lenken. Die übliche Häuslichkeit hatte so ausgesehen, daß Nadya mit stoischer Gelassenheit ein paar Schläge einsteckte und Anatolys Haßtiraden einfach hinunterschluckte. Sie stellte sich demonstrativ zwischen ihren Mann und ihre Kinder, manchmal war ihr das Blut übers Gesicht gelaufen. Anatoly tobte weiter und verpaßte ihr noch mehr Schläge. Wenn sie dann immer noch nicht zur Seite gegangen war oder gar etwas erwidert hatte, hatte er seinen Kindern mit der Faust gedroht und sie angebrüllt, daß er sie umbringen würde, wenn sie es noch ein einziges Mal wagen würden, das Verbot zu mißachten, das seinen aktuellen Wutausbruch hervorgerufen hatte. Anschließend torkelte er davon und schlief auf dem einzigen Sofa der Wohnung ein. Bis Yuri in die achte Klasse gekommen war, hatte sich diese Szene fast jeden Abend wiederholt.
Am Abend des ersten Mai 1970, des wichtigsten sowjetischen Feiertags, hatte Anatoly mehr als das Doppelte seiner normalen Wodkaration in sich hineingeschüttet. Übel gelaunt hatte er seine Familie aus der Wohnung gescheucht, die Tür abgeschlossen und war in einen komatösen Schlaf gefallen. Während der Nacht, als Nadya und Yegor auf den Bänken der Gemeinschaftsküche ein notdürftiges Lager aufgeschlagen hatten, war Anatoly an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Als man ihn am Morgen auffand, war er bereits kalt gewesen; die Leichenstarre hatte schon eingesetzt. Nach Anatolys Tod konnte die Familie nur wenig aufatmen. Sie hatten ihre Zweizimmerwohnung im ersten Stock verlassen müssen und waren in eine direkt unter dem Dach des Gebäudekomplexes gelegene Einzimmerwohnung verbannt worden, wo es im Winter eiskalt und im Sommer entsetzlich heiß war. Noch schwieriger aber war es gewesen, ohne Anatolys Lohn auskommen zu müssen, wobei sie diesen Verlust wenigstens zum Teil durch die nun wegfallenden Wodkakosten wettmachen konnten.
Zum Glück war Nadya im darauffolgenden Jahr befördert worden. Sie hatte seit dem Abschluß der Berufsschule in einer Keramikfabrik gearbeitet. Für Yuri hatte das bedeutet, daß er die Schule bis zur zehnten Klasse besuchen konnte. Leider hatte er sich zu einem zurückgezogenen und aggressiven Teenager entwickelt, der schon bei lächerlichen Hänseleien durch Klassenkameraden Schlägereien vom Zaun brach. Darunter hatten auch seine schulischen Leistungen gelitten. Am Ende waren seine Abschluß-noten ebenso wie die Eignungstests für einen Universitätsbesuch zu schlecht ausgefallen; dabei hatte seine Mutter so gehofft, daß aus ihrem Sohn einmal etwas Besseres werden würde. Statt dessen hatte er die örtliche Berufsfachschule besucht und sich zum MikrobiologieTechniker ausbilden lassen. Man hatte ihm weisgemacht, daß der Bedarf an Arbeitskräften in diesem Bereich enorm zunehmen werde, vor allem in Swerdlowsk. Daß die Regierung eine gigantische Pharmafabrik errichtet hatte, in der Impfstoffe für Mensch und Tier produziert werden sollten, war Yuri damals sehr gelegen gekommen.
»Sind Sie mal wieder in Rußland gewesen, seitdem Sie in Amerika leben?« fragte die Frau aus Estland, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.
»Nein, noch nicht«, erwiderte Yuri. Die Erinnerung an seine baldige Rückkehr beflügelte ihn. Er hatte sich sogar schon ein Open-Ticket vom Flughafen Newark via Frankfurt nach Moskau besorgt. Für den Newark Airport hatte er sich entschieden, weil er im Südwesten von Manhattan lag. Nach seinem Biowaffenanschlag im Central Park wollte er New York umgehend verlassen und den im Osten gelegenen JFK Airport aus Sicherheitsgründen lieber meiden. Der Wind blies fast immer von West nach Ost, und er wollte schließlich unter keinen Umständen seinem eigenen Terroranschlag zum Opfer fallen.
An das Flugticket zu kommen hatte ihn einige Mühe gekostet. Er hatte nie einen international gültigen russischen Reisepaß ergattert,
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