Anthropofiction
zwei Möglichkeiten: entweder sind die Leute der Fundstelle Nachkommen einer vorprimitiven Rasse, die in Nordost-Nordamerika existierte und später von der Zange der Irokesen- und Algonkinexpansion eingeschlossen wurde, oder sie waren ein fremdes Volk (Thule? Dorset?), das aus seiner Heimat wegzog und nicht mehr zurückfand. Jedoch bleibt die Theorie vom ›isolierten Volk‹ allen Fragen offen, und die Forscher wollen sich keinesfalls auf sie versteifen. Sie neigen eher zu der Theorie der ›Wanderer aus dem Norden‹, und falls irgendwelche Specksteinlampen entdeckt worden wären, hätten sie sich pauschal hinter diese Hypothese gestellt.
II. Das Fehlen von Behausungen
Diese Tatsache veranlaßt die Forscher noch mehr, sich der Theorie zuzuwenden, daß die Menschen der Fundstelle aus dem fernen Norden kamen. Da die Menschen während der größten Zeit des Jahres in diesem ungewohnten Klima keinen Schnee für ihre Iglus gefunden haben können, waren sie gezwungen im Freien zu leben.
Allgemein können wir hier noch anfuhren, daß das Fehlen von Keramikgegenständen zu der Folgerung führen könnte, daß die Menschen der Fundstelle ihr Fleisch roh gegessen haben; eine weitere Stütze für unsere ›ferner Norden‹-Theorie.
Schließlich sollten wir festhalten, daß die Menschen der Fundstelle Wanderer waren, die aus einer anderen Klimazone kamen, daß sie im Freien gelebt und existiert haben, daß sie an eine Art Fisch-Gott geglaubt haben (wahrscheinlich ein guter Geist, was dadurch erklärt wird, daß sie einen Engelhai zur Nachbildung auserwählt haben) und daß sie schließlich von feindseligen Irokesen und Algonkins vernichtet wurden (wir müssen hier eine Neutralität ausschließen).
(Die Forscher möchten klarstellen, daß diese Ergebnisse nur provisorischer Natur sind, und sie geben zu, daß intensivere Forschungen – vielleicht die Arbeit eines ganzen Tages – Material an den Tag bringen könnte, das allem widerspricht. Dieser Abschnitt wur de eingefügt, um eine Art Vorbereitung für einen geordneten Rückzug, im Falle eines Angriffs gegen uns, zu treffen.)
Bibliographie
Die Frage, ob eine Bibliographie in dieser Arbeit angeführt werden sollte, war der Anlaß zu erheblichen Diskussionen unter den Mitgliedern des Forschungsteams; der Senior-Autor hatte, da das erforschte Gebiet sozusagen dem Archäologischen Mittelalter angehörte und auch weiterhin dort bleiben wird, das Gefühl, eine Bibliographie sei nicht vonnöten. Der Junior-Autor, des sen Berufsausbildung ihm den Wunsch eingebläut hat te, jeden Tag eine gute Tat zu tun, fühlte, daß eine Bibliographie notwendig wäre. Er wurde schließlich überzeugt, diese Frage fallenzulassen, teilweise aus Respekt dem Senior-Autor gegenüber, teilweise deshalb, weil der Senior-Autor über das Transportmittel des Teams verfügte und gewillt war, ihn bei der Fundstelle zurückzulassen, falls er sich widersetzen würde, und aus anderen zwingenden Gründen.
Lokale Sitten
Eine Frau, oder zehn? Soll Weihrauch auf dem Altar verbrannt werden – oder das Herz eines menschlichen Opfers? Der Anthropologe muß wie ein Geheimagent vorgehen. Man könnte sagen, er springt mit einem Fallschirm über einer fremden Gesellschaft ab und lernt dann dort sich zurechtfinden und neue Dinge zu entdecken. Dann berichtet er von seinen Funden. Horace B. Miner sprang mit dem Fallschirm über seiner eigenen Gesellschaft ab, und zwar, um aus der Sicht eines Außenstehenden, vertraute Sitten zu untersuchen. Sein Bericht: »Das Körperritual der Renakirema«.
Dadurch wird offensichtlich, daß Anthropologen nicht in ferne Länder reisen müssen, um exotische Gesellschaften zu studieren. Sie brauchen nur ihre eigene Gesellschaft einmal unter die Lupe zu nehmen. Wie exotisch die Sitten des unerforschten amerikanischen Inneren eigentlich sind, darauf wird in Kit Reeds Horror-Story »Das Warten« versteckt angespielt. Sie zeigt uns eine kleine Stadt, die sich nicht wesentlich von den Städten unterscheidet, die wir kennen – und trotzdem ganz anders ist als sie – so daß wir die Geschichte beenden müssen, bevor uns die volle Wirkung empfindlich trifft.
Lao Shaw untersucht, in dieser Übersetzung des chinesischen Originals, seine eigene Gesellschaft in derselben Art und Weise, wie es H. G. Wells und Jonathan Swift taten, nämlich indem er eine fremde Rasse mit menschlichen Zügen ausstattet. Hier handelt es sich aber weder um Mondmenschen noch um Liliputaner,
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