Anthropofiction
fort.«
Vincent lächelte. »Selbst das ist leider nicht ganz richtig«, sagte er. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber die Eskimos wohnen nicht in Iglus, zumindest die meiste Zeit nicht. Sie wohnen im Sommer in Fellzelten, im Frühwinter in Stein- und Erdhäusern …«
»Das spielt keine Rolle«, sagte der Präsident. »Das ist nicht wichtig.«
Vincent paffte weiter seine Pfeife. »Woher wissen Sie, daß es das nicht ist?«
»Was? Oh … ja. Ja, ich verstehe, was Sie meinen.« Der Präsident ließ sich nichts vormachen. Es war kaum seine Schuld, daß er nichts über die Eskimos wußte. Wer wußte schon was über sie?
»Das ist der Trick, wie Sie beginnen, zu verstehen, Sir«, sagte Vincent.
»Aber sehen Sie«, warf Morton Hillford ein. »Ich will Ihren Wissensbereich nicht herabsetzen, Doktor, aber die Eskimos haben einfach nicht die fortschrittlichste Zivilisation auf diesem Planeten! Wir haben eine Technologie, die der ihren Hunderte von Jahren voraus ist, Wissenschaft wissen sie nicht einmal zu schätzen, eine Bill of Rights, ein in Jahrhunderten ausgebildetes politisches System – tausenderlei Dinge! Die Eskimos zählen einfach nicht.«
Vincent zuckte die Achseln. »Für Sie nicht«, berichtigte er. »Aber Sie nehmen die Bewertung nicht vor.«
Morton Hillford beharrte. »Angenommen, Sie wür den die Wahl treffen, Doktor. Würden Sie einen Eski mo wählen?«
»Nein«, gab der Anthropologe zu. »Wahrscheinlich nicht. Aber dann betrachte ich die Sache von etwa den gleichen Wertvorstellungen ausgehend wie Sie. Ich bin auch Amerikaner, verstehen Sie.«
»Ich glaube, ich erkenne das Problem«, sagte der Präsident langsam. »Die Leute auf diesem Schiff sind uns weit voraus – sie müssen es sein, sonst hätten sie nicht dieses Schiff. Daher sind ihre Maßstäbe nicht dieselben wie die unsrigen. Sie addieren, die Punkte nicht auf dieselbe Art wie wir. Ist das richtig, Doktor?«
Vincent nickte. »Aufs Geratewohl würde ich das sagen. Es ist einleuchtend. Vielleicht hat unsere Kultur etwas Wichtiges übersehen – etwas, das die Wolkenkratzer, die Massenproduktion, die Wahlen und alles übrige aufwiegt. Wie können Wir das wissen?«
Der Präsident trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch. »Betrachten wir es einmal aus anderer Sicht«, schlug er vor. »Könnte es sein, daß geistige Werte wichtiger sind als technologischer Fortschritt – etwas in der Art?«
Vincent überlegte. »Das glaube ich nicht«, sagte er schließlich. »Es könnte irgend etwas Derartiges sein, aber warum sollte man dann die Eskimos wählen? Es gibt viele Völker, die in technologischer Hinsicht schlechter dran sind als sie – die Eskimos sind mechanisch ganz geschickt. Sie haben eine Reihe von Sachen erfunden, wie zum Beispiel Schneebrillen und Jagdtechniken und komplizierte Harpunenspitzen. In der Tat, sie sind ganz gut in technischen Einrichtungen. Ich glaube nicht, daß wir die Technologie zum Fenster hinauswerfen können; so einfach ist es nicht. Und was die ›geistigen Werte‹ angeht, haben sie es an sich, daß ihre Handhabung trügerisch ist. Aus dem Stegreif würde ich nicht sägen, daß die Eskimos mehr als andere Völker davon haben, und es ist sogar möglich, daß sie weniger haben. Nehmen Sie, sagen wir, Indien – die Inder haben wirklich das Schwergewicht auf die Religion gelegt. Ich glaube, sie haben vielleicht die richtige Richtung eingeschlagen, sind aber noch nicht auf dem richtigen Gleis.«
Der Delegierte der Vereinten Nationen rieb sich die Brauen. »Nun gut, was haben die Eskimos denn?«
»Ich kann Ihnen nur eine Antwort darauf geben«, sagte Vincent. »Jedenfalls nur eine ehrliche Antwort: ich weiß es nicht. Sie werden auf Irvington warten müssen, und ich vermute, er wird genauso überrascht sein wie jeder andere. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum die Eskimos von allen Völkern auf der Erde ausgewählt werden sollten. Wir werden es einfach herausfinden müssen, das ist alles – und das bedeutet, daß wir viel mehr über jede Menschengruppe auf diesem Planeten wissen müssen als im Augenblick, um herauszufinden, was die Eskimos haben, das die anderen nicht haben .«
»Noch mehr Geld«, seufzte der Präsident etwas finster. »Doktor, können Sie uns nicht etwas sagen, um weiterzukommen, nur provisorisch? Ich habe in einer Stunde Kabinettssitzung, und ich muß dort erscheinen und etwas sagen. Und anschließend eine Fernsehansprache, und die Zeitungen, und die ausländischen Diplomaten,
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