Anthropofiction
wie wir sie heute kennen – voll aufgerichtet und mit einem kompletten Gehirn ausgestattet – überhaupt nicht. Damals gehörten unsere Ahnen einer Spezies von Affenmenschen der Art Australopithecus an. Sie waren nackt wie wir und Zweibeiner wie wir, aber mit kleinerem Gehirn. Und sie jagten in Rotten nach Nahrung, wie Wölfe. Sie konkurrierten in den Steppen mit den Raubkatzen und anderen vierbeinigen Raubtieren, da diese alle entweder in der Morgen- oder Abenddämmerung jagten. Die Affenmenschen jagten unter der Mittagssonne, während ihre in Pelz gehüllten Feinde schliefen. Daher wird angenommen, daß die Affenmenschen unbehaart waren. Wie sonst sollten sie die Stoffwechselhitze ausschwitzen, die in den Stunden ihrer Aktivität bei Tageslicht erzeugt wurde? Unbehaart und schwitzend empfingen die Affenmenschen die UV-Strahlung direkt auf ihrer Haut. Anders als ihre behaarten Vorfahren im Wald bekamen die Affenmenschen ihre Vitamin-D-Rationen nicht durch das Ablecken von Körperölen. Wie alle heute lebenden Menschen erhielten sie ihr Sonnenvitamin als Folge der Irradiation von UV-Strahlen durch Ergosterol, einem chemischen Bestandteil der Fettgewebeschicht unter der menschlichen Haut.
Die ersten menschlichen Nachkommen der Affenmenschen waren so viel erfolgreicher bei der Nahrungssuche auf zwei Beinen, daß eine neue Art, Homo, die mit einem besseren Gang und einem größeren Gehirn ausgestattet war, sich aus Afrika bis nach Europa, Westasien und weiter bis in den fernen Osten ausbreitete.
Die Geschichte der Art Homo in Europa, vom Homo erectus heidelbergensis bis zum Homo sapiens sapiens spielte sich nördlich des 40. Breitengrades ab, wo die Wintersonne weniger als 20 Grad über dem Horizont steht. Von seinem Ursprung in den Tropen, wo zu viel UV-Strahlung eine Gefahr darstellte, hatte sich der Mensch nach Norden ausgebreitet, um Länder jenseits des Mittelmeers in Besitz zu nehmen, wo die Gefahr von zu wenig UV bestand.
Die Anpassung an Extreme von UV-Licht findet bei Menschen durch ständige Pigmentierung der Haut statt. Je dunkler die Haut, desto mehr UV wird reflektiert. Das bedeutet, je weniger UV von den Schichten unter der Haut absorbiert wird, desto weniger Vitamin D wird dort synthetisiert.
Das Problem für die Populationen von Pleistozän-Menschen, die den 40. Breitengrad nach Norden überquerten, war die Anpassung an schwaches UV-Licht. Dunkelhäutige Babies hatten O-Beine, X-Beine oder Rückgratverkrümmung bekommen, Erwachsene eine weiche und plastische Knochenstruktur. Frauen würden unter Hüftdeformationen leiden, die eine Geburt für Mutter und Kind unmöglich machten. Aber hellhäutigere Nachkommen würden als gesunde Kinder und fortpflanzungsfähige Erwachsene überleben.
Ungefähr 100 000 Jahre vor der Gegenwart hatte sich der Mensch in Europa während nicht viel weniger als einer Million Jahre an schwaches ultraviolettes Licht angepaßt. Zu dieser Zeit betritt der Neanderthaler den Schauplatz. Er wurde meistens als dunkler, behaarter, dummer Untermensch dargestellt, von »The Grisley Folk« (»Das schreckliche Volk«) von H. G. Wells bis zu »The Inheritors« (»Die Erben«) von William Golding. Das Bild ist sicherlich falsch. Der Neanderthaler war weiß, unbehaart und so intelligent wie unser eigenes Geschlecht. Letzteres ist dadurch bewiesen, daß er sich durch dieselbe übermäßige Anwendung technologischer Fähigkeiten ausgelöscht hat, die uns selbst verhext.
Bis zum Erscheinen der Neanderthaler-Populationen hatte der Mensch in Europa unter den milden Temperaturen einer warmen Zwischeneiszeit-Periode gelebt – genau gesagt, der dritten Zwischeneiszeit. Es war das Schicksal der Neanderthaler, es mit der heranrückenden vierten Eiszeit aufnehmen zu müssen, der eisigen Kälte der Würm-Eiszeit. Sie taten es mit bewundernswertem technischem Geschick. Sie erfanden die Kleidung. Sie mummelten ihre Kinder in Pelze ein. Ihre Rasse starb aus. So hatten sich die nackten Menschen aus Afrika mit dem natürlichen Wissen ihrer Körper unter dem Selektionsdruck der Natur an höhere Breiten angepaßt. Als die große Kälte einfiel, benutzten die Neanderthaler das Wissen ihres Hirns und paßten sich durch technologische Neuerungen an die veränderte Situation an. Ihre Lösung war zu gut.
Unter den Bedingungen verminderten ultravioletten Lichts gewährleistete die völlige Entblößung der depigmentierten Haut des Neanderthalers die Aufrechterhaltung einer ausreichenden Vitamin-D-Synthese.
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