Anthropofiction
sehen, ob er ein Gewehr ergreifen und ihren Angriff abwehren würde. Als er keinerlei Anstalten dazu machte, faßten sie Mut. Weitere Speere begannen in seine Richtung zu fliegen. Einer traf das Heck des Kanus, blieb zitternd stecken und wirbelte ihn eine halbe Drehung auf dem Fluß herum. Er biß die Zähne zusammen, beugte sich tief hinunter und warf seine müden Schultermuskeln gegen das Paddel. Er fragte sich, ob der Kannibalismus gänzlich ausgestorben war. Wenn nur irgendwo ein Weißer auftauchen würde! Oder ein anderes Dorf, zu dem er abbiegen könnte auf die Möglichkeit hin, daß die Bewohner ihm freundschaftlich begegneten! Vor ihm blieb der Fluß leer.
Sie hatten aufgehört, Speere zu werfen. Wahrscheinlich warteten sie, bis sie näherkamen, um bessere Treffchancen zu haben. Er warf einen kurzen Blick nach hinten und sah im Bug jeden Kanus einen Mann mit erhobenem Speer stehen. Während Lane sich umwandte, zog der Vorderste seinen Arm mit einem kurzen Ruck zurück.
Die Lanze verfehlte ihn nur knapp, fiel ins Kanu und schlug ihm das Paddel aus den blasenbedeckten Händen. Dann schien ein Gebrüll, von seitwärts kommend, die Luft zu zerteilen und der Ton eines grausamen Schlages erklang hinter ihm, dazu die verwirrten, erschreckten Schreie des Speerträgers. Er hob den Kopf und sah etwas gegen ein zweites Boot sausen und es unterhalb der Wasserlinie aufschlitzen. Im selben Augenblick streifte ein kräftig geworfener Speer seine Stirn und wilder Schmerz durchfuhr ihn.
Dann fiel er wieder zurück, fühlte sein Bewußtsein in langsamen, zögernden Wellen schwinden, während warmes Blut sein Gesicht hinunterrann und sich mit dem Schmutz am Boden des Kanus vermischte. Entweder hatten die Boote hinter ihm zu paddeln aufgehört, oder er nahm sie nicht mehr wahr. Benommen wunderte er sich, was die Zerstörung, die er flüchtig gesehen hatte, verursacht haben konnte, aber der Gedanke verblaßte schon, als er ihm in den Sinn kam, und die Dunkelheit siegte über ihn.
Das Kanu trieb weiter, stieß gegen Sandbänke, dreh te sich, fand manchmal die Mitte des Stroms und schoß davon. Fliegen kreisten über ihm, aber sie konnten ihn nicht mehr quälen. Nur noch das leichte Heben und Senken seiner Brust zeigte Leben an. Der nächste Tag fand ihn immer noch treibend, aber jetzt war die rote Blüte des Fiebers über sein Gesicht gebreitet; er stöhn te, wälzte sich und streckte vergeblich die Hände nach dem Wasser ringsum aus und sank vor Schwäche zurück.
Es mußte Momente halben Bewußtseins gegeben haben. Verschwommen nahm er einen Ruf, dann eine Erschütterung wahr und sanfte Hände, die ihn aus dem Kanu hoben und irgendwohin trugen. Und manchmal waren die Laute einer Sprache um ihn, war etwas Weiches unter ihm, in das er hineinsank, war da ein verschwommenes weibliches Gesicht. Aber diese Dinge waren von Traumphantomen umnebelt und dem Klang seiner eigenen Stimme, die er fortwährend selbst wahrnahm. Es erfaßte ihn ein unbestimmtes Gefühl von vergehender Zeit, und irgendwie war er sich langsam verstreichender Tage bewußt.
Wenigstens erschien die Umgebung Lane nicht überraschend, als das Fieber am zehnten Tag plötzlich schwand. Es ließ ihn schwach und elend, aber klar und frei von seiner Herrschaft zurück. Über ihm bewegte sich das Gesicht einer Frau – einer weißen Frau – mittleren Alters in einem Zimmer umher, das mit den Merkmalen der Zivilisation ausgestattet war. Sie trug helle Kleider, und wenn sie sich bewegte, war ein schwaches Rascheln von Stoff wahrzunehmen und der noch schwächere Duft eines billigen Parfüms, nur noch ein Hauch, der übriggeblieben war, seit sie es das letzte Mal benutzt hatte. Die Schwäche drohte ihn wieder zu überwältigen, und er kämpfte, um seine Augen offenzuhalten, als sie eine Schüssel mit einer Brühe brachte und anfing, sie ihm vorsichtig einzuflößen. Als sie sah, daß seine Augen offen und wieder klar waren, lächelte sie, lehnte seinen Kopf höher gegen die Kissen und strich das Haar über seiner Stirn zurück, wo nur eine Spur von Schmerz den Schnitt bezeichnete, den der Speer hinterlassen hatte.
»Wo …«
» Pst! Sie sind hier unter Freunden, Mr. Lane. Wir haben Ihr Kanu durch Zufall gefunden und uns um Sie gekümmert. In einer Woche werden Sie gesund sein – es war nur das Fieber und der Blutverlust. Noch einen Schluck – das wars. Doch Sie dürfen jetzt nicht sprechen; entspannen Sie sich nur und schlafen Sie wieder. Alles wird gut
Weitere Kostenlose Bücher