Anthropofiction
Ethik wie wir besessen haben. Ein hoher Stand der Zivilisation ist unmöglich ohne ein hohes Maß an Individualität. Ein kurzer Rückblick zeigt die Resultate einer niederen, barbarischen Ethik.«
So weit so gut. Smith versuchte eine neue Bresche zu schlagen.
»Sie sagten, daß die Degeneration einmal stoppen und die Evolution erneut einsetzen würde. Diese Rasse aber, ich erinnere Sie, ist untergegangen.«
Wie ein zweitrangiger Schauspieler streckte er einen Arm in Richtung der schweigenden Ruinen aus, die nun in der Dunkelheit verborgen lagen, unter Sternbildern, welche sich sehr von jenen unterschieden, die man von der Erde aus sah.
»Das spricht nicht für Ihre Theorie«, wiederholte Nieheimer. »Eine Kette von Evolution-Degeneration-Kreisläufen endet über einen langen Zeitraum hinweg in einer rückläufigen Haupttendenz, wenn schwächliche Charakteristika mehr richtungsbestimmend sind als die lebensfähigen Eigenschaften. Es gibt nur einen richtigen Weg, und viele, sehr viele falsche Wege.«
Smith runzelte die Stirn. Er spürte, daß da immer noch Fehler waren, aber er konnte sie nicht sofort finden. In die Runde gewandt, meinte er: »Das ist schlüpfrige Logik, junger Mann. Ein paar Unterstellungen zuviel. In fünf Jahren werden wir darauf zurückkommen und sehen, wer recht hat – Sie, ich oder jemand anders. Jedenfalls, ich denke, daß Unwissenheit bei diesem Untergang eine Rolle spielte, auf diese oder jene Weise.«
Nieheimer lächelte zweideutig und ließ die Diskussion fallen.
Wenig später senkte sich Stille über das Lager, als seine Bewohner die Zelte aufsuchten, denn die Nächte waren ebenso kurz wie die Tage. Und die Nacht war dunkel, denn dieser Planet besaß, im Gegensatz zur Erde, keinen Mond.
Am Morgen suchte Millar wieder die Höhle auf – oder den Tunnel, wie er es nun nannte. Er hatte gehofft, einer der Studenten, vielleicht Nieheimer, würde ihn begleiten, aber seine Hoffnung entsprach nicht den Notwendigkeiten, und ein Teil der Ausrüstung für das Lager und für die Ausgrabungen war noch unterwegs. Seine Kollegen würden nicht mitmachen, jeder ging seinen eigenen Interessen nach.
Als er aufbrach, voll ausgerüstet für einen ganzen Marschtag, munterte er sich mit einem Wahlspruch auf – jenem Motto, das er, oder jemand anders, über seine erste Ausgrabung gestellt hatte; ein Motto für Archäologen, vor allem für die jungen Mitglieder einer Expedition: »Wir tun der Geschichte schmutziges Werk.« Aber das Motto war schnell vergessen, als er, während er den Hügelkamm zwischen Höhle und Lager überquerte, im Anblick der Ruinen verharrte.
Ihre Farbe war weiß – ein bleiches, kalkiges Weiß wie von Gebeinen – doch hier und dort schimmerte es rot, rosa, blau und purpurn durch, bildete ein sinnloses Muster von Farbtupfern in dem Bild der Verwüstung. Und plötzlich erkannte Millar, daß die Grundmauern dieser fremdartigen Architektur zu Staub zerfallen sein mußten, seit die Stadt verlassen wurde und die Menschen eintrafen. Das allein erklärte das Ausmaß der Zerstörung, die keine Mauer hinterlassen und kein Stockwerk erhalten hatte. Und er spürte auch die plötzliche Überzeugung, daß diese Stadt erbaut worden war, allem und jedem zu widerstehen – außer jenem einen Ereignis, das sie dann zerstört hatte. Diese Türme mußten errichtet worden sein, den mächtigsten Erdstößen zu trotzen; auch dem Sturm der Hurrikans, den Ausbrüchen der Vulkane, allen Erschütterungen der Erde und des Himmels; noch immer ragten die entblößten Skelette der Bauwerke empor, geschüttelt von Zusammenbrüchen, aber gewaltig, fest und rostfrei unter dem weiten Firmament.
Sie waren ein Volk von Architekten gewesen, und sie hatten ihre Arbeit verstanden.
Millar war noch nachdenklich, als er den Tunnel erreichte: Wieviel Jahrtausende – oder Millionen Jahre – mußte eine Stadt unbehütet bleiben, bevor der Boden, auf dem sie stand, von den Elementen fortgeschwemmt wurde? Er wußte es nicht, doch allein der Gedanke an solche Zeiträume ließ ihn erschauern.
Der Hügel, der das Gewölbe verbarg, war mit verwitterten, bemoosten Schieferfelsen bedeckt, die Abhänge mit flachen Bruchstücken übersät. Wie hoch, so fragte sich Millar, war dieser Hügel in den Zeiten der Stadt gewesen? Dann bemerkte er, daß einst, vor so langer Zeit, auch auf diesen Hängen Ruinen geruht hatten.
Der Tunneleingang war ringsum von einem dicken schwarzen Material eingefaßt, das direkt mit dem Erdreich des
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