Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
des Rattenmanns vorzustellen. Die Legende besagt, Freud hätte seine Zuhörer fünf Stunden lang in Atem gehalten.
Der Rattenmann alias Ernst Lanzer war ein brillanter Jurist von neunundzwanzig Jahren. Er war intelligent, kultiviert und brachte Freud übrigens die berühmte Wendung aus Jenseits von Gut und Böse über den Rückzug der Erinnerung durch den Stolz nahe. Freud benutzte dieses Nietzsche-Zitat mehrfach. Lanzer schilderte seine Symptome: Er wollte sich und anderen Leid zufügen, hatte plötzliche Mordgelüste oder wollte sich die Kehle mit einem Rasiermesser durchschneiden, doch er hatte auch Angst, den Vater oder die Geliebte zu verlieren. Es folgte eine unglaubliche Aneinanderreihung äußerst wirrer Geschichten. Dann erzählte er, als Kind habe ihn sein Vater auf den Hintern geschlagen, möglicherweise als Strafe für eine sexuell konnotierte Missetat.
Lanzer erzählte, er habe sein erstes sexuelles Erlebnis mit einer Dame mit dem Namen Robert gehabt. Doch Robert ist ein männlicher Name. Außerdem berichtete er, von einer Foltermethode in einer Kaserne gehört zu haben. Dabei befestigte der Folterer einen Topf mit Ratten am Hinterteil des Opfers, sodass die Tiere in dessen Rektum eindringen konnten.
Auf diesem Detail errichtete Freud seine Theorie: Die Ratte war keine Ratte, sondern etwas anderes. Wir müssen gar nicht lange überlegen: Ratte gleich Penis. Über etliche – natürlich performative – symbolische Umwege erklärte Freud die Ratte schließlich zum Analogon des Vaters. Die Foltergeschichte offenbarte damit die Fantasie dessen, der sie erzählte. Freuds Schlussfolgerung lautete, der Rattenmann wolle Analverkehr mit dem eigenen Vater.
Einige Wochen nach dem Ende der Behandlung, die Freud als »die völlige Herstellung der Persönlichkeit und die Aufhebung ihrer Hemmungen« (Freud/Jung, Briefwechsel, S. 381) bezeichnete, schrieb er an C. G. Jung, der Rattenmann habe seine Probleme keineswegs besiegt. Doch der Kongress war vorbei, die Heilung
war verkündet, und alles Übrige kümmerte ihn nicht, denn schließlich diente alles doch dem Fortschritt der Wissenschaft, Freuds wichtigstem Anliegen. Der Rattenmann starb Anfang des Ersten Weltkriegs. Durch Freud wurde er unsterblich. Der musste nicht mehr fürchten, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut seine Thesen anfechten würde.
Bei dem vierten berühmten Fall handelte es sich um den Senatspräsidenten Schreber (1842–1911). Dieser Fall zeigt besonders deutlich, dass Freud sich bei seinen Patienten weder um den Körper noch um ihre konkrete Situation kümmerte, denn er traf Schreber nie persönlich. Die Analyse basierte ausschließlich auf der Lektüre von dessen Text Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, der 1903 erschienen war. Ein besseres Beispiel für Freuds These, der Patient selbst sei nicht so wichtig, weil nur die Wissenschaft zähle, lässt sich kaum finden. Was interessierte Freud der Mann und dessen geistige Gesundheit? Ihm ging es darum, den Katalog der Geisteskrankheiten um das Beispiel der Paranoia zu erweitern.
Schreber war Senatspräsident, ein renommierter Jurist, der nach einer Wahlniederlage dem Wahnsinn verfallen war. Er verbrachte mehrere Wochen in einer psychiatrischen Klinik und nahm seine Tätigkeit zunächst wieder auf, erlitt dann jedoch einen Rückfall und wurde neun Jahre lang in der geschlossenen Psychiatrie eingesperrt. Danach brachte er Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken heraus, in dem er eine seltsame Theorie über das Universum aufstellte. Er habe den Auftrag bekommen, sein Geschlecht zu wechseln, und könne der Welt damit ihr verlorenes Glück zurückgeben.
1911 veröffentlichte Freud seine Studie über den Senatspräsidenten unter dem Titel Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, im gleichen Jahr, in dem der Patient unfreiwillig starb. Gleich zu Beginn schrieb Freud: »Es ist möglich, daß Dr. Schreber heute noch lebt
und sich von seinem 1903 vertretenen Wahnsystem so weit zurückgezogen hat, daß er diese Bemerkungen über sein Buch peinlich empfindet.« (Bd. VIII, S. 241) Letztlich war Freud das natürlich gleichgültig.
Als Freud diese Zeilen schrieb, war Schreber gerade verstorben. Er starb im April 1911, und Freuds Text erschien im Sommer 1911, ohne dass dieser um die Meinung der Hauptperson nachgesucht hätte. Auf dem Internationalen psychoanalytischen Kongress in Weimar wurde der Text am 22. September desselben Jahres vorgetragen.
Weitere Kostenlose Bücher