Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
überall her; das Besuchsritual gestaltete seine Schwester. Um
die Jahrhundertwende war man nicht nur verrückt nach Schopenhauer, sondern auch nach Nietzsche. Wie hätte Freud dieser philosophischen Hysterie entgehen sollen?
Am 1. April 1908 widmete die Wiener Psychoanalytische Vereinigung ihre Sitzung dem Thema »Nietzsche: ›Vom asketischen Ideal‹ (3. Abschnitt der Genealogie der Moral [1887])« ( Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. I, S. 334). Zu diesem Zeitpunkt lag der Philosoph gerade erst acht Jahre auf dem Friedhof von Röcken begraben. Selbst wenn Freud die Genealogie nicht gelesen haben sollte, konnte er jetzt nicht länger behaupten, die dort vertretenen Thesen nicht zu kennen – besonders jene, die in seiner eigenen Theorie von der Entstehung der Zivilisation durch die Unterdrückung der Triebe eine so große Rolle spielen. Und doch kann man etwas kennen, ohne es zu kennen, etwas wissen und zugleich nicht wissen, Nietzsches Konzepte verarbeiten, ohne eine einzige Zeile von ihm gelesen zu haben – vorausgesetzt, wir glauben Freuds fantasievoller Behauptung, er habe die Bücher gekauft, ohne sie je lesen zu wollen.
Eduard Hitschmann, der an diesem Tag den Vortrag hielt, las zunächst einen Auszug aus der Genealogie vor und ging dann direkt zu seiner These über, die besagte, »[e]ine Philosophie sei ein aus innerem Drang geschaffenes, von einem dichterischen nicht sehr verschiedenes Werk.« (ebd.)
Diese Ansicht über Nietzsche ist sehr nietzscheanisch! Tatsächlich sagt der Philosoph eben das in seinem Vorwort zur Fröhlichen Wissenschaft und auch in seinen Ausführungen über die Lügen der Philosophen in Jenseits von Gut und Böse. Mit dem Hammer zerschlägt er die kristallene These vom himmlischen Ursprung der Ideen und macht deutlich, dass alle Ideen in irdischen Körpern entstehen.
Hitschmann führte weiter aus, dass man über Nietzsches Biographie wenig wisse. Und doch hatte er Folgendes zu berichten:
eine Kindheit ohne Vater; Erziehung in einem Frauenhaushalt; frühes Nachdenken über moralische Fragen; Freude an der Antike im Allgemeinen und der Philologie im Besonderen; eine starke Tendenz zu Männerfreundschaften nach römischem Vorbild, die die Psychoanalytiker, die stets zu einer Sexualisierung der Dinge neigen, spontan als Tendenz zur »Verwerfung« (ebd., S. 335) interpretierten.
Der Redner wies auch auf den Kontrast zwischen Nietzsches traurigem, tragischem Leben und der großen Bedeutung der Freude in seinem Werk hin. Ein Widerspruch bestünde zudem zwischen dem Lob der Grausamkeit in seinen Büchern und seinem sympathischen, gar empathischen Charakter, der jedem, der mit Nietzsche Kontakt hatte, aufgefallen sei. Hitschmann bezog sich weiter auf Nietzsches pathologisches Verhältnis zum Schreiben; etwa darauf, dass er lediglich zwanzig Tage zum Verfassen der Genealogie benötigt hatte. Es folgten knappe Ausführungen über Fehler, Gut und Böse, das schlechte Gewissen und das asketische Ideal, die Freud später allesamt in der Psychoanalyse reaktivierte.
Der Vortragende merkte an, Nietzsche sei nicht klar gewesen, dass sein Werk nicht verwirklichten Begierden entsprungen sei. Hätte er ein normales Sexualleben gehabt, hätte er wahrscheinlich keine Bordelle besucht und sich folglich nicht derart Mühe gegeben, das asketische Ideal schriftlich zu überhöhnen. Zwar hatte Nietzsche dabei nie auf sich selbst Bezug genommen, sich aber theoretisch mit der Entstehung philosophischer Konzepte aus den Schwächen, Begierden, Trieben, Fehlern und Grenzüberschreitungen von Philosophen beschäftigt. Zum Ende seiner Rede erwähnte Hitschmann noch Nietzsches »Paralyse« (ebd.), die es unmöglich mache, eine echte Analyse durchzuführen.
Nach dem Vortrag diskutierte man. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil sind Psychoanalytiker weder Befreier der Sexualität noch Revolutionäre der Sitten. Auch Freud zeigte sich hier nicht als Abweichler. Unter dem Deckmantel des Fachvokabulars
herrschte über die Themen Homosexualität, Inversion, befreite Lust und Masturbation eine erschreckende bourgeoise Einigkeit. Dem einen galt Nietzsche als »verrücktes Subjekt« – ein schnelles und nützliches Urteil, um den Philosophen samt seiner Philosophie ad acta zu legen und sich nur mit dem pathologischen Fall als solchem zu beschäftigen. Einem anderen Diskussionsteilnehmer erschien Nietzsche nicht als Philosoph, sondern lediglich als Moralist in der Tradition
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