Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
französischer Denker wie La Rochefoucauld oder Chamfort.
Ein dritter, Alfred Adler, kam zu dem Schluss, dass »von allen bedeutenden Philosophen […] Nietzsche unserer Denkweise am allernächsten stehe.« (ebd., S. 336) Freuds zukünftiger Intimfeind wagte es sogar, via Nietzsche einen Zusammenhang zwischen Schopenhauer und Freud herzustellen. Adler zufolge habe Nietzsche lange vor der Erfindung der Psychoanalyse entdeckt, dass der Patient sich selbst im Zuge der fortschreitenden Therapie besser versteht. Er fügte hinzu, die Genealogie der Moral habe die Kausalbeziehung zwischen der Unterdrückung der Libido und der Entstehung der Zivilisation (Kunst, Religion, Moral, Kultur) begriffen. Zu diesem Zeitpunkt waren Das Unbehagen in der Kultur oder Die Zukunft einer Illusion noch lange nicht erschienen, doch Adler traf ins Schwarze.
Paul Federn äußerte sich ähnlich: »Nietzsche stehe uns so nahe, daß man nur fragen müsse, wie weit er nicht gekommen sei.« Und er ließ, in Anwesenheit Freuds, eine Majestätsbeleidigung folgen: »Er [Nietzsche] habe eine Reihe der Funde Freuds intuitiv erkannt; er habe die Bedeutung des Abreagierens, der Verdrängung, der Flucht in die Krankheit, der Triebe als erster entdeckt; sowohl die normalsexuellen als auch die sadistischen Triebe.« (ebd., S. 337) Was sagt man dazu! Einmal immerhin wurde hier klar ausgesprochen, was Sache war, sogar in Anwesenheit des Meisters, der immer noch schwieg. Für die einen war Nietzsche ein verrücktes Subjekt, den anderen galt er als Vorläufer Freuds. Für eine der Positionen musste man sich entscheiden – außer man
war der Meinung, das eine schließe das andere nicht aus, aber auch das musste gesagt werden.
Freud ergriff das Wort. Er erklärte, auf die Lektüre von Nietzsches Werken verzichtet zu haben, und zwar wegen der Antipathie, die er gegen deren abstrakten Charakter hege. Jeder Leser von Das Ich und das Es oder Jenseits des Lustprinzips wird zu Recht entgegnen, dass hier mit (philosophischen) Steinen wirft, wer im (psychoanalytischen) Glashaus sitzt. Der Protokollant berichtet, Freud habe vor den versammelten Kollegen zugegeben, Nietzsche nicht zu kennen: »ein gelegentlicher Versuch, ihn zu lesen, sei an einem Übermaß von Interesse erstickt.« (ebd., S. 338) Noch ein freudscher Sophismus: Man interessiert sich nicht für etwas, weil es einen übermäßig interessiert.
Natürlich vergaß Freud in seiner Antwortrede auch jene nicht, welche – allen voran Adler – so unverfroren meinten, er habe Vorläufer gehabt, die ihm diese oder jene nützliche Idee geliefert hätten. Freuds ontologisches Diktum blieb unverändert: Er habe seine Entdeckungen ganz allein und mithilfe seiner Genialität gemacht, ihm sei Gnade zuteil geworden, nichts und niemand könne ihn beeinflussen. Dem Protokoll zufolge versicherte Freud, Nietzsches Denken habe keinen Einfluss auf seine Arbeit gehabt. Und da er es schließlich versicherte, war niemand so vermessen, von ihm Beweise einzufordern.
Nun war ein anderer berühmter Psychoanalytiker an der Reihe: Otto Rank. Er trug wirre Gedanken über Nietzsches verdrängten sadomasochistischen Trieb und dessen Position innerhalb der Philosophie der Grausamkeit vor. Dann präsentierte Wilhelm Stekel, Baumeister der »frigiden Frau«, eine These, die eigentlich schallendes Gelächter hätte auslösen müssen. Doch weil Ernsthaftigkeit die vorherrschende Tugend in psychoanalytischen Kreisen ist, fand die These beim Publikum Gehör. Stekel sah doch tatsächlich »in der Anführung von Lupulin und Kampher eine Art Selbstgeständnis Nietzsches« (ebd., S. 339). Inwiefern? Man weiß es nicht. Unter welchen Umständen? Auch
das weiß man nicht. Nietzsche-Leser können Stekels Diagnose jedenfalls nicht beurteilen, denn in Nietzsches gesamtem Werk ist keine Erwähnung von Lupulin zu finden.
Weil die versammelten Kollegen kaum Fortschritte im Fall Nietzsche gemacht zu haben schienen, widmeten sie ihm am 28. Oktober desselben Jahres eine weitere Sitzung. Es ging um Ecce homo – ein gefundenes Fressen für die anwesenden Herren. Der Vortragende Adolf Häutler interpretierte das Werk als geträumtes Selbstporträt – eine Einschätzung, die man durchaus als Pleonasmus bezeichnen könnte. Um dem Meister zu schmeicheln, behauptete er, Nietzsche habe gar nicht genesen wollen, weil er gewusst habe, dass die Krankheit Ursprung seiner Überlegungen sei.
Es folgte eine verblüffende Diskussion, an der man die Logik der
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