Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
eine gut gemachte Fälschung, mit dem Ziel, Nietzsche als Antisemiten, Kriegstreiber, preußischen Nationalisten, Pangermanisten und Verfechter von Grausamkeit, Brutalität und Mitleidlosigkeit erscheinen zu lassen. Dabei war dies im Grunde ein Selbstporträt seiner Schwester.
Dieser Frau brachten die beiden Freudianer also mit Freuds Zustimmung Myrrhe und Weihrauch dar. Jones sprach im Namen der Kongressteilnehmer. Er erkannte die intellektuellen Gemeinsamkeiten zwischen Freud und Nietzsche an. War nun die Stunde der Versöhnung gekommen? Sollte Freud sich endlich mit seinem geistigen Vater abgefunden, dessen philosophische Vaterschaft anerkannt haben? Während Nietzsches Schwester, welche dieses seltsame Zusammentreffen überhaupt erst möglich gemacht hatte, die Ehrerbietung der Psychoanalyse entgegennahm,
traf Freud sich in Weimar mit Lou Andreas-Salomé. Lou war von Nietzsche verehrt worden und Autorin des ersten Buchs, das den autobiographischen und existentiellen Charakter von dessen Werk offenlegte. Zugleich war sie eine erklärte Feindin von Nietzsches Schwester. Elisabeth hasste Lou ihrerseits aus vielen Gründen, unter anderem wegen ihrer jüdischen Abstammung, ihrer libertinär-lutheranischen Haltung und ihres Beitrags zum (eingebildeten) sittlichen Verfall Nietzsches.
Sachs und Jones stellten also die geistige Verwandtschaft von Nietzsche und Freud fest. Für einen Mann, der so viel getan hatte, um das Gegenteil zu beweisen, war dies ein bedeutsames Ereignis. Man weiß nicht, was Freud über die Initiative der beiden dachte, ob er sie unterstützte oder nur tolerierte, was er darüber wusste und vielleicht davon erwartete, welche strategischen oder taktischen Beweggründe ihn antrieben. Denn es ist schwer vorstellbar, dass mit einem derart großen Eingeständnis nicht eine ebenso große Erwartung korrespondierte – war es doch gewissermaßen Freuds Anerkennung eines geistigen Vasallentums.
Elisabeth Förster war eine notorische Hysterikerin, eine zutiefst überzeugte Antisemitin, eine böse Frau und ein schlechter Mensch. Sie muss die Hommage zweier Repräsentanten der jüdischen Medizin, welche für sie den Gipfel moralischer und geistiger Verkommenheit darstellte, mit Argwohn betrachtet haben. Freud übrigens fand den überproportionalen jüdischen Anteil unter den Psychoanalytikern problematisch und hoffte gemeinsam mit C. G. Jung auf mehr »arischen« (das Wort stammt von ihm) Rückhalt für diese neue Disziplin, die sich auf der ganzen Welt verbreiten sollte. Es bleibt offen, ob der Besuch bei Nietzsche Teil dieser Taktik war.
Gegen Ende seines Lebens, als er endlich weltweit bekannt war, schrieb Freud in einem Brief an Arnold Zweig (12. Mai 1934): »In meiner Jugend bedeutete er [Nietzsche] mir eine mir unzugängliche Vornehmheit, ein Freund von mir, Dr. Paneth, hatte
im Engadin seine Bekanntschaft gemacht und mir viel von ihm geschrieben.« (Freud/Zweig, Briefwechsel, S. 89) Was umfasst das Wörtchen »viel«? Wahrscheinlich all das, was Nietzsche zum damaligen Zeitpunkt umtrieb: die Umwertung der Werte; die Gleichsetzung des Leibes mit der Großen Vernunft; das »Es« (ein wichtiger Begriff der zweiten freudschen Topik) als bestimmende Instanz des Unbewussten; das Wesen des Willens zur Macht; die Kritik der dominierenden jüdisch-christlichen Moral, ihre Rolle bei der Entstehung des zeitgenössischen Unbehagens und der sexuellen Misere; ansonsten seine Thesen aus der Genealogie der Moral über Schuld und schlechtes Gewissen sowie andere Themen, die man in kaum veränderter Form in Freuds Analysen findet.
Derselbe Arnold Zweig vertraute Freud seine Absicht an, ein Buch über Nietzsches Zusammenbruch zu schreiben. Dem Brief fügte er einen ersten Entwurf bei. Zur Antwort erhielt er den Rat, das Vorhaben abzubrechen. In Bezug auf diese Geschichte berichtete Ernest Jones, Freud habe Zweig den Verzicht auf das Projekt vorgeschlagen, obwohl er gleichzeitig zugegeben habe, die Gründe dafür nicht genau zu kennen. Die berühmte Vornehmheit Nietzsches war Freud in jungen Jahren unerreichbar erschienen. Sein Umgang mit Nietzsche erinnert vor diesem Hintergrund an eine Fabel von Jean de La Fontaine, in der ein Fuchs, der nicht an die zu hoch hängenden Trauben gelangt, sich unter dem Vorwand von diesen abwendet, sie seien noch zu unreif … Was, wenn Nietzsche ein zu hohes Ich-Ideal verkörperte, sein Schüler nicht heranreichte und deshalb denjenigen den Flammen vorwarf, den er verehrte? Diese
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