Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Dienst der sexuellen Liberalisierung stehen, denn zu viel Freiheit an einer Stelle zöge Zwang an anderer Stelle nach sich. Schließlich war das Verbot die Existenzgrundlage der Gesellschaft. Der konservative Freud sah sich als Garanten dieses Verbots, und die Psychoanalyse sollte es sichern.
Im Gegenzug durfte sie durchaus zur Schadensbegrenzung beitragen – mehr aber auch nicht. Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität war eine Waffe gegen die jüdisch-christliche Sexualität mit unzweifelhaft nietzscheanischer Akzentuierung. Der Text wetterte gegen die sexuelle Repression als hauptsächlichem Entstehungsgrund der Neurosen, verurteilte die Scheinheiligkeit, kritisierte die eheliche Monogamie und machte das christliche asketische Ideal für Geisteskrankheiten, Masturbation, Perversionen und Angst verantwortlich. Und er machte den Elefanten zur Mücke: »Das Heilmittel gegen die aus der Ehe entspringende Nervosität wäre vielmehr die eheliche Untreue« (Bd. VII, S. 158). Der Ausweg lag also nicht in der sexuellen Befreiung, sondern jeder musste sich seinen eigenen Notausgang suchen, an dessen Ende die letzte Rettung wartete: die Couch.
III.
Die Masturbation – Eine Kinderkrankheit der freudschen Lehre
»Symbolisch verstanden, bedeutet Onans Akt,
daß er seinen Samen der Mutter (Mutter Erde) gab.
Seine Sünde besteht also im Inzest.«
Sigmund Freud in Protokolle der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung (Bd. III, S. 329)
Erstaunlicherweise findet sich bei Freud eine Kritik an der Onanie. Erstaunlich deshalb, weil sein klarer Blick auf die sexuelle Repression vermuten ließe, dass er die einsamen Freuden als geeigneten und harmlosen Ausweg aus der Tyrannei des Körpers betrachtete. Schließlich schadet diese Form des Lustgewinns niemandem; wie also könnte man sie so hart kritisieren oder verurteilen, als sei man ein strenger christlicher Beichtvater?
Die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zeigen, wie gestrig die Doktoren sich in dieser Frage verhielten. Das berüchtigte Handbuch des Dr. Samuel Tissot (1728–1797), der den Onanisten die schlimmsten Krankheiten voraussagte, fand in den meisten der dort versammelten Analytiker würdige Erben. Mit seinem europaweiten Bestseller Die Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefriedigung herrühren wollte Tissot die gängige und banale Praxis verhindern, indem er sie als extrem gesundheitsschädlich darstellte. Freud wandelte auf Tissots Spuren und verpasste die Chance, ein sexueller Aufklärer zu werden.
Die Psychoanalytische Vereinigung widmete der Onanie zwischen dem 25. Mai 1910 und dem 24. April 1912 elf Sitzungen. Sie alle zeigen, dass die Mitglieder von der Schädlichkeit dieser Praxis überzeugt waren – die sie ganz gewiss selbst praktizierten!
Die erste Zusammenkunft war eine »Diskussion über die Schädlichkeit der Masturbation« ( Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. II, S. 502). Bereits mit dem Titel war alles gesagt. Freud behauptete bei dieser Gelegenheit: »Die Neurasthenie läßt sich jedesmal auf einen Zustand des Nervensystems zurückführen, wie er durch exzessive Masturbation erworben wird« ( Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen, Bd. I, S. 497). Welche Frequenz als exzessiv zu betrachten ist, verriet er allerdings nicht.
Mithilfe der Sophistik verurteilten die Psychoanalytiker nicht die Masturbation als solche, sondern die begleitenden Fantasien! Wie ein Priester im Beichtstuhl suchte man das Übel nicht in der Tat selbst, sondern in den schlechten Gedanken. Zwar hatte man keinen Beweis, aber die Logik des Performativen erlaubte auch hier wieder die Umwandlung subjektiver Überzeugungen in objektive Wahrheiten. So brachten die Mitglieder der Vereinigung die Onanie mit Inzestfantasien, Homosexualität und Perversionen in Verbindung!
Freuds sophistische, performative Logik führte auch hier zu einer altbekannten Argumentation, der zufolge die Fantasien mit einer Wirklichkeit korrespondierten, und wenn der Onanist sich daran nicht erinnere, beweise dies nicht, dass die Fantasien nie Realität waren, sondern nur, dass er diese Realität verdränge. Das Masturbieren verweise also – selbst wenn die betreffende Person dies abstreite – auf die Fantasie der sexuellen Vereinigung mit der Mutter und die Kopulation mit einer gleichgeschlechtlichen Person, und zwar im Rahmen einer Abkehr von der laut Freud normalen, also heterosexuellen
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