Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
düsterem Weltbild gibt es kein Glück, sondern nur kurzlebige, letztlich enttäuschende hedonistische Triebbefriedigungen. Alle Wege zum Glück enden in der Desillusionierung; das größte Glück besteht im geringsten Leid; gemeinschaftliche
Lösungen sind zum Scheitern verurteilt; Liebe und Familie machen alles nur noch schlimmer, und die Politik kann überhaupt nichts zum Glück der Menschheit beitragen.
Was also kann man tun? Den ewigen Kampf der Welt gegen den Tod nicht ignorieren. Doch das Nichts gewinnt immer, denn es befindet sich im Innern dessen, woraus wir sind. In jeder Sekunde unseres Lebens bewegen wir uns auf das Nichts zu. Mit diesem Wissen müssen wir unser Leben bestreiten, irgendwie zurechtkommen, uns mit dem Schlimmsten arrangieren. Finden wir etwas, das uns egoistische Befriedigung verschafft, so ist es gut. Wenn nicht, bekommen wir Neurosen oder, noch schlimmer, Psychosen, verlieren also mitten in der Welt die Welt aus den Augen. Freud ließ keinen Zweifel daran: Das Schlimmste ist uns stets gewiss.
II.
Die heimliche sexuelle Befreiung
»Es ist nicht die Rede davon, daß der Rat,
sich sexuell auszuleben, in der analytischen
Therapie eine Rolle spielen könnte.«
Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse (Bd. XI, S. 449)
Im Fazit von Die endliche und die unendliche Analyse beschäftigte Freud sich mit der sexuellen Aufklärung von Kindern. Das entsprach nicht dem Zeitgeist. Die Eltern des Kleinen Hans waren Pioniere auf diesem Gebiet, bevor ihr Nachwuchs zu einer berühmten Fallgeschichte wurde. Zeigte Freud sich bei diesem Thema etwas weniger pessimistisch? Keineswegs. Zwar ging er weder so weit zu behaupten, Kinder könnten durch das Thematisieren der Masturbation Schaden nehmen, noch erklärte er diese Sorge für überflüssig. Doch er behauptete, Kinder könnten mit diesem Wissen nichts anfangen, weil diese primitiven Dinge so tief in ihnen verwurzelt seien, dass erworbene Informationen nicht zu ihnen vordringen könnten.
»Man überzeugt sich, daß sie nicht einmal so rasch bereit sind, ihnen jene, man möchte sagen: naturwüchsigen, Sexualtheorien zum Opfer zu bringen, die sie im Einklang mit und in Abhängigkeit von ihrer unvollkommenen Libidoorganisation gebildet haben, von der Rolle des Storchs, von der Natur des sexuellen Verkehrs, von der Art, wie die Kinder zustande kommen. Noch lange Zeit, nachdem sie die sexuelle Aufklärung empfangen haben, benehmen sie sich wie die Primitiven, denen man das Christentum aufgedrängt hat und die im Geheimen fortfahren, ihre
alten Götzen zu verehren.« (Bd. XVI, S. 79) In anderen Worten: Weder Geschichte noch Pädagogik, Bildung oder Kultur spielen hierbei eine Rolle, denn das Triebgeschehen entzieht sich dem menschlichen Zugriff. Freud essentialisierte und enthistorisierte also die Sexualität. Sie ist, was sie schon immer war, und sie wird stets nur sein, was sie ist. Sie verändern zu wollen ist nach Freud eine reine Wunschvorstellung.
Sein tragischer Pessimismus führte ihn zu der Behauptung, die Tyrannei der Triebe sei total und unausweichlich. Das Lustprinzip steuert jedes Lebewesen, welches danach strebt, die Wünsche des Unbewussten zu verwirklichen. Doch das Realitätsprinzip begrenzt das Lustprinzip und verhindert, dass es alles andere dominiert. Für Freud entsprangen Kultur und Gesellschaft aus eben jener ständigen Spannung zwischen Lust und Wirklichkeit. Eine völlige Befreiung schien ihm deshalb undenkbar. Sie würde zu absolutem Chaos führen, zum Gesetz des Dschungels. Die Stärksten und Gewieftesten würden die Schwachen und Einsamen regieren.
Freuds klassische Opposition von Lustprinzip und Realitätsprinzip erinnert an Nietzsches Paarung dionysisch/apollinisch. Auf der einen Seite stehen bei Nietzsche Trunkenheit, Tanz, Poesie, Musik, Mythos, die mystischen Kräfte, der subjektive Künstler; auf der anderen Seite Bildhauerei, Ordnung, Form, Architektur, Nüchternheit, Ruhe, Weisheit, Maß, Syllogismen, Dialektik, Wissenschaft, Dialog. Archilochos gegen Homer. Triumphiert ein einzelnes Prinzip, kommt es zur Katastrophe. Es bedarf einer subtilen Dialektik zwischen beiden Instanzen. Eine dionysische Welt wäre genauso verrückt wie eine apollinische, und eine Welt, in der das Lustprinzip regiert, wäre unerträglich, genau wie eine solche, die nur vom Realitätsprinzip bestimmt wird. So warnte Freud: »Es ist nicht die Rede davon, daß der Rat, sich sexuell auszuleben, in der analytischen
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