Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
genitalen Sexualität.
Von der Onanie riet er aus verschiedenen Gründen ab. Zum einen war sie für ihn eine antisoziale Handlung, mit der das Individuum sich gegen die Gesellschaft stellte – demonstrierte es doch, dass es ihrer gar nicht bedurfte. Sie war eine zu einfache Handlung, mit der sich ein Mensch daran gewöhnte, sich für den Lustgewinn nicht anzustrengen. Sie war realitätsfremd, weil das
Subjekt die Realität von sich wegschob und sich mit Fantasien zufriedengab. Sie war eine hedonistische Handlung, welche die Akzeptanz der notwendigen gesellschaftlichen Zwänge erschwerte. Sie war regressiv, weil sie auf die sexuelle Phase der Kindheit verwies, in der die Psychoneurosen entstehen; und sie war, wenn sie von Frauen ausgeführt wurde, widernatürlich, weil sie männlich konnotiert war.
Diese Kritikpunkte wurden in keiner Weise ausgeführt; sie blieben bloße Behauptungen. Inwiefern schadet die Onanie der Gesellschaft? Weshalb hat in der Sexualität das Komplexe Vorrang vor dem Einfachen? Ist sie umso besser, je schwieriger sie ist? Wieso sollte die sogenannte klassische Sexualität mit einer Penetration der Frau durch den Mann weniger fantasiebehaftet sein als die Masturbation? Und selbst wenn die Psychoanalytiker recht hätten: Wieso sollte man die deprimierende Wirklichkeit einer schönen Fantasie vorziehen? Und wieso ist die Lust überhaupt verboten? Wieso ist eine hedonistische Sexualität kritikwürdig? Und weshalb verbietet man die regressive Lust? Wenn der Onanist daran Freude hat und ihm in diesem Moment keine nicht regressive Lust möglich ist, weshalb sollte er dann auf diese einfachen Freuden verzichten? Und wie konnte Freud, der sich mit Fließ über die Bisexualität austauschte und zum Beweis der sexuellen Ambivalenz jedes Menschen die Rede des Aristophanes aus Platons Gastmahl zitierte, den Frauen diese angeblich männliche Freude versagen? Und woher wusste er überhaupt so genau, was männliche Lust von weiblicher unterschied? Die Argumente der Kollegen wirkten eher schlicht. Antisozial, zu einfach, wirklichkeitsfern, hedonistisch, regressiv und widernatürlich? Na und? Weshalb sollte sexuelle Lust sozial, kompliziert, realistisch, traurig, erwachsen und natürlich sein – zumal für keinen dieser Faktoren präzise Definitionen vorgelegt wurden?
Immerhin gestand Freud der Onanie – die er für sich persönlich nicht zu verdammen schien – einige positive Effekte zu. Sie
lindere nämlich sexuelle Abstinenz, die sich andernfalls schädlich auswirken könne. (Doch damit standen sich schädliche Masturbation und schädliche Abstinenz gegenüber.) Die Onanie mindere die sexuelle Leistungsfähigkeit, was in einer Gesellschaft, in der man die Triebe unterdrücken und sich mit Monogamie zufriedengeben müsse, von Vorteil sei. Sie erlaube jungen Männern zudem, sich anderen Dingen zu widmen, und verhindere die Ansteckung mit Syphilis. Ungeachtet dieser widerwillig eingestandenen Vorteile galt Freud die Masturbation als Sexualkrankheit, weil die Norm – die kein Mitglied der Vereinigung infrage stellte – eine genitale, eheliche, monogame Heterosexualität vorschrieb.
Bei der Zusammenkunft am 22. November 1911 griff man das Thema wieder auf. Freud untersuchte das Verhältnis des Onanisten zu dessen inzestuösen Fantasien. Die Unmöglichkeit der sexuellen Beziehung zur Mutter erkläre die schweren Depressionen, an welchen Onans Gefolgsleute litten! Freud porträtierte den Onanisten als ängstlichen, misstrauischen Einzelgänger, der in seiner Jugend ein »krankhaftes Streben nach Wahrhaftigkeit« ( Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. III, S. 307) an den Tag gelegt habe, sich nach echter Freundschaft sehne, unspontan sei, sich beobachtet fühle, manchmal keine Kontrolle über seine Hände habe, sich leidenschaftlich gern für etwas aufopfere und entweder egoistisch oder überaus altruistisch sei.
Manchmal habe ein Onanist sehr positive Eigenschaften: die Neigung zu Tugendhaftigkeit oder moralischer Perfektion sowie zur »Sauberkeit im Reden« (ebd., S. 307 f), eine Abneigung gegen Zynismus, das Festhalten an Terminen, Angst vor Kraftlosigkeit, starke Konzentration auf die Familiengründung; manche Mädchen hätten den Eindruck, ihre Jungfräulichkeit verloren zu haben und nie mehr Kinder bekommen zu können. Und als letzte Pointe behauptete Freud: »Jeder Masturbant stellt eigentlich zwei Personen dar, die erste Pflegerin (Mutter) und sich selbst« (ebd., S.
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