Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
bewaffnet und aggressiv, sie erklärte jeden zum Feind, der ihre Ziele nicht teilte, sie schürte den Hass zwischen Reich und Arm. Der Bolschewismus funktioniere wie eine Religion, so Freud: Er fordere Opfer, Leid und Verzicht im Namen eines zukünftigen, weit entfernten Glücks. Heute Blut und Tränen, morgen Glück für alle.
Freuds Ablehnung des sowjetischen Totalitarismus könnte glauben machen, er habe den europäischen Faschismus genauso kritisch beurteilt. Wie wir noch sehen werden, war dem leider nicht so. Sein Text Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse stammt von 1932 und wurde 1933 veröffentlicht. Im selben Jahr kam Hitler an die Macht. Freud zeigte sich hier als über Marxismus, Oktoberrevolution, Bolschewismus und sowjetischen Totalitarismus sehr gut informierten Autor. Bereits in Das Unbehagen in der Kultur hatte er sich in ähnlicher Form geäußert. Beide Texte widersprechen der These vom unpolitischen Freud.
In Das Unbehagen in der Kultur kritisierte Freud den Marxismus-Leninismus bezüglich seiner optimistischen Teleologie, aber auch bezüglich der Theorie der sozialen Ungleichheit: Freud glaubte nicht, dass die Ungleichheit zwischen den Menschen von einer schlechten Verteilung der politischen und wirtschaftlichen Macht herrührte. Für ihn war sie ganz natürlich und unabänderlich.
Die proletarische Revolution, die kollektive Aneignung der Produktionsmittel, die Umverteilung der Güter und die Organisation der Konsumgüter durch den Sowjet, also eine linke Politik, um es klar zu sagen, war in Freuds Augen eine Utopie. Die Diktatur des Proletariats konnte niemals zu sozialem Frieden und Harmonie führen.
Denn die Aggressivität der Menschen war für Freud nicht kulturellen – also veränderlichen – Ursprungs, sondern Auswirkung einer unveränderlichen Natur. Der Todestrieb hatte nichts mit den Produktionsbedingungen zu tun und konnte auch durch politische Maßnahmen nicht abgeschafft werden. Solange es Menschen gibt, würde es Kriege, Mord, Verbrechen, Gewalt, Aggressivität und Ausbeutung geben. Keine Revolution würde je die Ungleichheit abschaffen.
Beispielsweise sei keine Revolution vorstellbar, welche die sexuellen Ungleichheiten aufheben könnte. Was täten die Bolschewiki,
wenn einmal alle Bürger ausgerottet sind und es an das ungleich schwerer zu lösende Problem der sexuellen Unterschiede geht? Was täten sie gegen die verschiedenen triebbestimmten Neigungen? Und wenn man dann glaubt, nun sei politisch und sozial alles geregelt, blieben immer noch die Triebe.
Immerhin ein Verdienst gestand Freud dem Bolschewismus zu: Er habe große Männer hervorgebracht. Nachdem er sich sehr kritisch zur Oktoberrevolution von 1917 geäußert hatte, schrieb Freud: »Es gibt auch Männer der Tat, unerschütterlich in ihren Überzeugungen, unzugänglich dem Zweifel, unempfindlich für die Leiden Anderer, wenn sie ihren Absichten im Wege sind. Solchen Männern verdanken wir es, daß der großartige Versuch einer solchen Neuordnung jetzt in Rußland wirklich durchgeführt wird. In einer Zeit, da große Nationen verkünden, sie erwarten ihr Heil nur vom Festhalten an der christlichen Frömmigkeit, wirkt die Umwälzung in Rußland – trotz aller unerfreulichen Einzelzüge – doch wie die Botschaft einer besseren Zukunft.« (ebd., S. 196) Da läuft es einem kalt den Rücken herunter.
Hier zeigte Freud sich politisch plötzlich ein wenig optimistisch: Die bolschewistische Revolution schaffe Männer der Tat, die ihre Überzeugungen durchsetzten und für eine bessere Zukunft stünden. Als Freud diese fünfunddreißigste Vorlesung der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse veröffentlichte, regierte im Kreml ein gewisser Josef Stalin.
Wie bereits die Widmung für Mussolini zeigte, war Freuds Geschichtsbild von Burckhardt und Hegel geprägt. Für ihn stand auf der einen Seite die unkultivierte, triebgesteuerte Masse und auf der anderen Seite der große Mann, der diesen dunklen Kräften eine Richtung gab. Auch hier war Freud kein Aufklärer, der das Volk als Souverän einer Demokratie sehen wollte, sondern ein antiphilosophischer Denker, für den sich die Macht in einer Person konzentrieren musste – war es früher der König, so zu Freuds Zeiten eben der Diktator.
Dieses Bild von Freud passt auch zu seinen Ausführungen in
Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921. Im Kapitel Die Masse und die Urhorde griff Freud die zentralen Thesen über
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