Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
verdanke. Zunächst durch Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung (Wilhelm Fink, 2002) und später durch das mit Sonu Shamdasani verfasste Buch Le dossier Freud. Enquête sur l’histoire de la psychanalyse (Les empêcheurs de penser en rond, 2006). Der erste Text behandelt die Entstehung dessen, was Borch-Jacobsen »die erste Lüge der Psychoanalyse« nennt, nämlich Fälschungen, Verzerrungen, Mystifizierungen, aber auch die unglaubliche Überheblichkeit, mit der man dabei vorging. Im zweiten Buch reicht die Palette der Kritik an Freud von der Fiktion der Selbstanalyse als Ursprung der Disziplin über die nur scheinbar geheilten Patienten, Jones’ Hagiographie und die Psychoanalyse als »Privatwissenschaft« statt als universelles System bis zu dem Embargo der Archive, das die Historiker an ihrer Arbeit hindern soll. Was man in diesem Buch erfährt, ist niederschmetternd.
Inzwischen habe ich Borch-Jacobsen kennengelernt. Er hat mein Buch vor der Veröffentlichung aufmerksam gelesen und Fehler im Manuskript korrigiert. Ich bin außerdem Jacques-Alain Miller begegnet, und auch er erwies mir die Ehre, das Manuskript
dieses Buchs zu lesen und mir wertvolle Anregungen zu geben. Beiden sei hier gedankt.
Jacques Van Rillaer gehört mit Les Illusions de la Psychanalyse (Pierre Mardaga Éditeur, 1980) zu den Autoritäten auf dem Gebiet, denn um Freud lesen zu können, lernte er Deutsch. Er ist Psychoanalytiker, hat sich einer Lehranalyse unterzogen, war zehn Jahre lang Mitglied der Belgischen Schule für Psychoanalyse und kam dann zu dem Schluss, das ganze Unterfangen sei eine Illusion. Das Werk beginnt freudig, doch wenn ihm die Munition ausgeht, offenbart sich – nicht ohne Humor und Ironie – die wahre Natur des freudschen Märchens.
Auch Richard Websters publikumswirksames Überblickswerk Le Freud inconnu. L’invention de la psychanalyse (Exergue, 1998) ist lesenswert.
Zwei dicke Bücher behandeln die Entwicklung der Kritik der Psychoanalyse: Henri F. Ellenbergers Die Entdeckung des Unbewußten (Huber, 1973) und Frank J. Sulloways Freud. Biologe der Seele (Hohenheim, 1985). Beide Autoren zeigen die Psychoanalyse als historisches Phänomen, das viele Anleihen bei anderen Theorien gemacht hat und dessen Stellung als revolutionäre Einzelleistung Freuds damit unterlaufen wird.
Ellenberger beginnt mit den prähistorischen Heilzeremonien und stellt Freud in eine Tradition, die ihm vorausging – der Magnetismus von Mesmer oder Puységur, Charcots Hypnose, die romantische Medizin, die psychologischen Analysen Pierre Janets – und sich mit Adler oder Jung auch nach ihm fortsetzte. Freud war also kein überhistorisches Genie, sondern ein bestimmtes Phänomen innerhalb der Geschichte der Heiler.
Sulloway zeigt, wie viel Freud der zeitgenössischen Wissenschaft verdankt und dass er längst kein Held war, sondern die wissenschaftliche Literatur intensiv las und sich aus ihr bediente. Diese Anleihen versah er mit neuen Namen, und die eigentlichen Entdecker verschwanden in der Versenkung. In einem Anhang zu Kapitel 13 formuliert Sulloway einen Katalog der wichtigsten
freudschen Mythen – sechsundzwanzig an der Zahl –, die zeigen, wie die Legende konstruiert ist und wie man sie dekonstruieren kann. Beispiele sind der Heldenmythos, der Mythos der wundersamen Wirksamkeit der Psychoanalyse, der Mythos vom Bruch mit der Biologie, der Mythos der Selbstanalyse und vieles mehr.
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Die Briefwechsel als Goldgrube. Es gibt unglaublich viel Literatur zur Psychoanalyse. Die Werke erklären, erzählen, theoretisieren, vereinfachen, verkomplizieren, kommentieren, analysieren, verkürzen, kondensieren, entwickeln oder verdunkeln Freuds Lehre. Gleiches galt einst für die Auslegung des Christentums oder vor nicht allzu langer Zeit der marxistischen Patristik. Die Psychoanalytiker, die ihre Gedanken in Buchform veröffentlichen, gleichen den Bischöfen, die im Mittelalter ihre Prosopopöien drucken ließen, oder den Mitgliedern des Politbüros, die ihre vor dem Obersten Sowjet gehaltenen Reden herausgaben.
Da lese man lieber Freuds Briefwechsel, denn jeder von ihnen ist eine wahre Goldgrube. Wer nur einen lesen möchte, sollte Lettres à Wilhelm Fließ (1887–1904) lesen, das 2006 auf Französisch in einer »vollständigen Ausgabe« herauskamen [Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ (1887–1904), hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, dt. Fassung von Michael Schröter, S. Fischer, 1986]. Auf der Banderole, die
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