Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Geisel nimmt. In Totem und Tabu sprach Freud von einem »wissenschaftlichen Mythos« und in Der Mann Moses und die monotheistische Religion von einem »historischen Roman«. Mit seinem Monumentalwerk zeigte Jones sich als gelehriger Schüler.
Die in den USA entstandenen kritischen Arbeiten stellten die Legende schon in den siebziger Jahren infrage. Peter Gays Darstellung Freud – Eine Biographie (S. Fischer, 2000, deutsch zuerst 1989) beschäftigte sich – noch etwas schüchtern – mit gewissen Widersprüchen und Brüchen. Während Jones heikle Themen schweigend überging, bediente Gay sich einer feinen Dialektik, die nur bemerkt, wer sich mit Freud auskennt. Er arbeitete zwar nach Jones’ Vorbild, aber er entstaubte den Mythos gehörig. Eine Revolution sind die 900 Seiten dennoch nicht. Das Vorwort zur französischen Ausgabe deutet die Position des Verlags an. Es stammt von Catherine David und trägt den Titel »Mit welchem Recht?« Dort erfahren wir gleich zu Beginn: »Freud erkannte seine Fehler, auch das gereichte ihm zum Ruhm.« Wer sich auskennt, merkt daran, dass die Statue einen Sockel aus Zement erhält und man nicht auf eine Demontage der Ikone hoffen darf. Wer nicht um das Ausmaß der Legendenbildung weiß, muss sich weiterhin gedulden, denn natürlich fehlt eine kritische Biographie immer noch. Auch Gérard Hubers 2009 veröffentlichte Biographie Si c’était Freud. Biographie psychanalytique (920 Seiten, erschienen bei Le Bord de l’eau) tritt in Jones’ hagiographische Fußstapfen. Der erste Satz beginnt mit den Worten: »Beschreibt man den Stammbaum eines biblischen Patriarchen […]«.
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Hass als Methode. In der Einleitung zu diesem Buch schildere ich, wie ich als Jugendlicher auf die Freud-Legende hereinfiel, die seriöse Pariser Verlagshäuser wie Gallimard oder Presses universitaires de France, aber auch Taschenbuchverlage, Lehrpläne für Philosophie und Universitäten verbreiteten. Ich muss leider sagen, dass mich die bibliographische Arbeit für dieses Buch ernüchtert hat.
2005 erschien Livre noir de la psychanalyse, dessen Untertitel
verspricht: Vivre, penser et aller mieux sans Freud [ Wie man ohne Freud besser lebt und denkt ]. Das Presseecho war groß. Einige Rezensionen habe ich gelesen, und alle stellten das Buch als ein Pamphlet gegen Freud und die Psychoanalyse hin und als Plädoyer für die berühmte kognitive Verhaltenstherapie. Einige der Autoren wurden mit Antisemitismus in Verbindung gebracht. Der Text sei voller Hass gegenüber Freud und eine Ansammlung faktischer Fehler. Die Rezensionen machten mir nicht gerade Lust auf das Buch. Mein Masochismus ist nicht so ausgeprägt, dass ich überprüfen möchte, ob es zu Recht Prügel bezogen hat.
Das mit Abstand Schlimmste, was ich über Livre noir de la psychanalyse gelesen hatte, stammte von Élisabeth Roudinesco. Sie schrieb im Express vom 5. – 14. September 2005: »Freud wird dort als Lügner, Fälscher, Plagiator, Vertuscher und Propagandist beschrieben und als Vater, der sich des Inzests schuldig gemacht hat.« Ein derartigen Angriffen ausgesetztes Buch wurde von vielen ungelesen verteufelt. Ich wurde einmal in einer Radiosendung gefragt, was ich von der Affäre um das Buch hielte, das Freud als Lügner, als sexbesessenen und geldgierigen Mann hinstellte. Ich wies die Anschuldigungen gegen Freud in einem Satz zurück. Diesen Satz bereue ich heute, denn die Vorwürfe sind berechtigt. Und ihre Autoren haben Beweise – im Gegensatz zu all jenen, welche die Anschuldigungen abstreiten.
Unter der Leitung von Jacques-Alain Miller veröffentlichten die Freudianer Anti-livre noir de la psychanalyse. Dieser Mediencoup illustriert ihr Vorgehen. Ein Buch, das im Februar 2006 auf einen Text vom September 2005 reagiert, müsste eigentlich zwischen diesen beiden Daten entstanden sein. Doch der Großteil der siebenundvierzig enthaltenen Beiträge wurde bereits bei einem Forum gegen die kognitive Verhaltenstherapie am 9. April 2005 vorgetragen, also fünf Monate vor dem Erscheinen von Livre noir de la psychanalyse! Die Freud-Anhänger und Veranstalter des Forums recycelten also ihre Vorwürfe gegen die Verhaltenstherapie
und nahmen dabei ein Buch zum Anlass, das sie damals noch gar nicht gelesen haben konnten! Das Livre noir wird im Anti-livre noir auf 300 Seiten nur viermal zitiert – mit gutem Grund.
Die Psychoanalytiker waren beleidigt, weil das Institut national de la santé et de la recherche médicale im Februar 2004
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