Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
zum Erscheinen um das Buch geschlungen war, stand zu lesen: »Ein anderer Freud?« In diesen Briefen entdecken wir, um Roudinescos schöne Litanei aufzugreifen, einen lügenden, fälschenden, plagiierenden, vertuschenden, propagandistischen und inzestuösen Freud, den Ernest Jones und Anna Freud uns so lange vorenthalten wollten, indem sie Teile der Korrespondenz unterschlugen.
Die unzensierte Ausgabe der Briefe zeigt einen Freud, der bezüglich der Affäre Emma Eckstein unredlich war, der nach Geld
und Ruhm strebte, der sich die Zeit mit Unfug wie Numerologie, Telepathie, Okkultismus und Aberglauben vertrieb, der mit seiner Mutter schlafen wollte, seinem Freund begeistert von einem sexuellen Traum über eine seiner Töchter erzählte und Fließ’ Theorie der Bisexualität übernahm. Über diesen Freud verlieren die Tempelwächter kein Wort. Einige Autoren von Livre noir erzählen von ihm, und keiner der Beiträger aus Anti-livre noir will ihn kennen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Veröffentlichung der unzensierten Korrespondenz bei Anna Freud und Ernest Jones nachgerade Hysterie auslöste – Freud selbst war schon zuvor entsetzt gewesen, als er erfahren hatte, dass die Briefe, auf deren Vernichtung er es abgesehen hatte, in einem Antiquariat zum Verkauf standen. In Frankreich gab es lange Zeit eine geschönte Ausgabe mit wenigen ausgesuchten Briefstellen unter dem Titel La Naissance de la Psychanalyse [Sigmund Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902, (S. Fischer) Imago Publishing, 1950].
Über Freuds Jugendjahre erfuhr ich viel aus Freuds Lettres de jeunesse in der Übersetzung von Cornélius Heim ( Gallimard 1990) [Sigmund Freud, Jugendbriefe an Eduard Silberstein, 1871–1881, hg. von Walter Boehlich, S. Fischer 1989], besonders darüber, wie Freud sich in ein junges Mädchen verliebte, weil er eigentlich dessen Mutter begehrte (Brief vom 4. September 1872). Anekdotisches bietet auch Lettres de famille de Sigmund Freud et des Freud de Manchester (1911–1938), übersetzt von Claude Vincent (PUF, 1996).
Unter dem Titel Nôtre cœur tend vers le Sud erschien 2005 bei Fayard Freuds Reisekorrespondenz von 1895 bis 1923 [Sigmund Freud, Unser Herz zeigt nach dem Süden, Reisebriefe 1895–1923, hg. von Christfried Tögel unter Mitarb. von Michael Molna, Aufbau 2002]. Interessant sind die Postkarten, die Freud seiner Frau schickte, während er mit seiner Schwägerin Urlaub machte. Auf Seite 57 [dt. Ausgabe: S. 33] sind die Urlaubszeiten und Aufenthaltsorte
samt Begleitung verzeichnet. Am häufigsten wurde Freud demnach von Minna begleitetet. Wundert das jemanden?
Der Briefwechsel Freuds mit Ludwig Binswanger erschien 1995 bei Calmann-Lévy unter dem Titel Correspondance (1908–1938) in der Übersetzung von Ruth Menahem und Marianne Strauss [Sigmund Freud/Ludwig Binswanger, Briefwechsel 1908–1938, hg. von Gerhard Fichtner, S. Fischer, 1992]. Hier erfahren wir, dass Freud trotz der immer wieder verkündeten Allmacht der Psychoanalyse am 9. April den Psychrophor verschrieb (eine Sonde, die in die Harnröhre eingeführt und mit eiskaltem Wasser durchspült wird), um die als Krankheit betrachtete Onanie zu behandeln! Die Grenzen der Heilkraft der Psychoanalyse belegt auch folgendes Zitat aus einem Brief vom 28. Mai 1911, in dem Freud von einem Scherz berichtet: »der die psychoanalytische Kur eine ›Mohrenwäsche‹ heißt« (ebd., S. 81), nicht ganz zu Unrecht, wie er hinzufügt. In diesem Buch wird auch deutlich, dass Freud das Unbewusste als ein kantsches Noumenon denken wollte – was Binswanger ablehnte.
Gelesen habe ich auch Lou Andreas-Salomés Correspondance avec Sigmund Freud (1912–1936) [Sigmund Freud/Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, hg. von Ernst Pfeiffer, S. Fischer, 1966] sowie Journal d’une année (1912–1913), übersetzt von Lily Jumel [Lou Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres, 1912/1913, Max Niehans Verlag, 1958]. Die Texte zeigen, dass selbst diese unabhängig lebende und frei denkende Frau unter Freuds Einfluss geriet und zu seiner Schülerin wurde. Freud vertraute ihr viel über Anna an.
Die Briefsammlung Correspondance (1906–1914) [Sigmund Freud/C. G. Jung, Briefwechsel, hg. von William McGuire u. Wolfgang Sauerländer, S. Fischer, 1974] mit Carl Gustav Jung ist interessant, weil sich an ihr ein Schema nachvollziehen lässt, das viele Beziehungen
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