Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
später aus dieser privaten Brieffreundschaft machen würden. Im Austausch mit Fließ fühlte Freud sich wohl, entspannte sich und schrieb frei von der Seele weg. Er entblößte sich, offenbarte seine Schattenseiten, Schwächen, Fehler und Zweifel, seinen Charakter und sein Temperament, ohne sich zu verstellen. Hier begegnen wir einem unehrlichen Mann – auf die Affäre Emma Eckstein werde ich noch im Detail zurückkommen. Wir begegnen einem ehrgeizigen Mann, der besessen davon war, der Geschichte möglichst schnell seinen Stempel aufzudrücken. Wir treffen auf einen habgierigen Mann, der rasch zu Reichtum gelangen wollte – sein Umgang mit den Kokainforschungen
sowie der Fall Fleischl-Marxow zeugen davon. Wir erleben einen sturen Mann, der selbst im Angesicht der eigenen Fehler keinen solchen einräumte – dies zeigte sich beispielsweise anhand der Theorie der Verführung. Der Mann, der sich uns in den Briefen offenbart, war auch abergläubisch und verstieg sich zu schriftlichen Beschwörungsformeln – später dann dem Versuch, seine in Wirklichkeit positive Haltung gegenüber dem Okkultismus zu vertuschen. Wir erleben einen unbedarften Mann, der die seltsamen Vorstellungen seines Freundes Fließ über Zyklen, Perioden und Numerologie teilte. Wir werden Zeuge von Freuds zyklothymischem Verhalten; so berichtete er Fließ detailliert noch von den kleinsten körperlichen Zipperlein, von einer laufenden Nase und Herzrhythmusstörungen, Migräneanfällen und Nikotinsucht über ein eigroßes Furunkel am Skrotum bis zu Verstopfung und Durchfall. Wir erleben den depressiven Freud, der Fließ von jahrelangen derartigen Problemen erzählte (7. August 1894). Wir erfahren von Stimmungsschwankungen, von Phasen, in denen Freuds geistige Produktivität gleich null war, Zeiten genereller Müdigkeit, mangelnder Libido und »elendem Körperbefinden« (16. Oktober 1895, Briefe an Wilhelm Fließ, S. 148). Wir begegnen dem verängstigten und dem phobischen Freud, der Furcht vor Reisen, dem Tod, Zugfahrten, Hunger und Armut hatte; Freud offenbarte Fließ außerdem seine Kokainsucht (12. Juni 1895). In den Briefen an Fließ sehen wir den nackten, ungeschminkten Freud, ohne künstliche Pose, der erkennbar darunter litt, aus Fleisch und Blut zu sein anstatt aus Marmor und Gold.
Die Selbstanalyse hatte weder Anfang noch Ende. Dazu passt der Titel eines späten Texts von Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, aus dem Jahr 1937. Damals war er bereits dem Tode nah, litt unter einem fortschreitenden Gaumenkrebs, hatte eine Kieferprothese und war von über dreißig Operationen geschwächt. Der Text enthält den Schlüssel zu Freuds Odyssee oder – um einen schönen Begriff von Derrida zu bemühen – seiner
Egodizee: Freud hatte Zweifel daran, dass die Psychoanalyse endgültig heilen könne. Als alter Sophist argumentierte er, wiederkehrende Pathologien seien kein Beweis der Unbehandelbarkeit, sondern Folgen äußerer Einwirkung. Mit subtiler Rhetorik unterschied er zwischen der »unvollständigen« und der »unvollendeten Analyse« ( Die endliche und die unendliche Analyse, Bd. XVI, S. 63). Zudem sei es unmöglich, eine triebbestimmte Störung für immer zu unterdrücken. Freud schreibt weiter, der Analytiker müsse nicht nur selbst analysiert worden sein, sondern sich zudem alle fünf Jahre wieder auf die Couch begeben. Wäre in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Selbstanalyse nicht besonders ökonomisch? Nach weiteren Überlegungen kommt Freud zu dem Schluss, die Analyse könne »eine Arbeit ohne Abschluß« (ebd., S. 96) sein. Hier könnte man den Eindruck gewinnen, Freud habe die Analyse – seine Analyse – gegen Ende seines Lebens als unabschließbare Aufgabe bezeichnet.
Die Psychoanalyse wäre also eine Analyse ohne Anfang und Ende, erschaffen von einem Mann auf der Basis seiner eigenen Psyche. Er gab zwar vor, sie genau zu erforschen, hatte jedoch kein echtes Bedürfnis, ihren wahren Gehalt zu ergründen. Er begnügte sich damit, die Psyche der anderen – und zwar aller anderen – zu fiktionalisieren. Sein gesamtes Werk ist das Dokument einer unvollendeten Selbstsuche. Ob kleine Artikel für Zeitschriften oder große theoretische Bücher wie die Psychopathologie des Alltagslebens: Jeder Text ist zugleich das Tagebuch einer gepeinigten Seele.
Die Traumdeutung, die zum einen wissenschaftlicher Text (nämlich Grundstein einer neuen Wissenschaft) und zum anderen autobiographisches Werk (nämlich
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