Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Buch kündete vom Tod der Philosophie und der ganzen Macht der Psychoanalyse; es sollte die Geschichte der Menschheit in zwei Teile spalten, sodass nach seinem Erscheinen nichts mehr so sein würde wie zuvor. Das Buch, dessen erste Auflage sich jahrelang nur stockend verkaufte und das doch 2500 Jahre westlicher Philosophie zu Grabe trug, das den Übertritt in eine neue Welt markierte und eine neue geistesgeschichtliche Zeitrechnung begründen wollte, berichtete in wenigen Zeilen, wie der sieben- oder achtjährige Freud eines Tages das Zimmer seiner Eltern betrat. Dort erleichterte er sich in den Nachttopf und hörte, wie sein Vater über ihn die an sich banale Bemerkung machte: »Aus dem Buben wird nichts werden.« ( Traummaterial und Traumquellen, Bd. II/III, S. 221) Freud kommentierte diesen Vorfall mit der Einschätzung: »Es muß eine furchtbare Kränkung für meinen Ehrgeiz gewesen sein, denn Anspielungen an diese Szene kehren immer in meinen Träumen wieder und sind regelmäßig mit Aufzählung meiner Leistungen und Erfolge verknüpft, als wollte ich sagen: Siehst du, ich bin doch etwas geworden.« (ebd., S. 222) Diese Darstellung des Vaters entspricht eher dem Bild des freudschen, sprich ödipalen Vaters, wie er im Gesamtwerk zu finden ist. So trat zum erniedrigten Vater der erniedrigende Vater. In beiden Fällen war es ein Vater, den man einfach hassen musste.
Der Vater war kastriert, der Vater kastrierte, und vielleicht kastrierte er auch, weil er kastriert war. Freud entwarf die Figur eines hassenswerten Erzeugers. Der Mann, der nicht auf die antisemitische Beleidigung reagieren konnte, verhielt sich in Freuds Augen schwach gegenüber den Starken und stark gegenüber den Schwachen, im konkreten Fall gegenüber seinem Sohn, der den
verzeihlichen Fehltritt beging, in den Nachttopf der Eltern zu urinieren. Jakob Freud kuschte vor der antisemitischen Erniedrigung, kastrierte aber erhobenen Hauptes sein kleines jüdisches Kind.
Die Zusammenschau der beiden hier geschilderten Träume zeigt, dass Freud weniger den Vater rächen wollte, der auf die antisemitische Provokation nicht richtig reagieren konnte. Vielmehr wollte er sich am Vater rächen und an dessen kastrierender Bemerkung, die ihn verletzt hatte – strebte er doch von frühester Kindheit an nach Ruhm, Ansehen, Geld, einem guten Ruf und allen äußeren Zeichen sozialer Anerkennung vom Titel eines Universitätsprofessors über verschiedene andere Ehrbezeugungen bis zum Nobelpreis.
Dort wo der Vater in Die Traumdeutung weder als Kastrierter noch als Kastrator erscheint, tritt er als Toter auf. Davon zeugen weitere Träume. Einer ereignete sich in der Nacht vor der Beisetzung des Vaters. Im Brief an Fließ schilderte Freud detailliert, wie sein Erzeuger ins Nichts glitt. Freud wollte seinen geschätzten Freund gerne treffen, doch die lange Agonie des Vaters verhinderte dies. Ein Brief vom 30. Juni 1896 berichtet von Herzattacken, einer Blasenlähmung und anderen Symptomen, die beweisen, dass der einundachtzigjährige Jakob seinem Ende entgegenging.
Bereits in einem Brief vom 11. Dezember 1893 hatte Freud von einer schlimmen Grippe erzählt, die den damals achtundsiebzigjährigen Vater völlig veränderte und zu einem Schatten seiner selbst werden ließ. Ende September 1896 stand er schon mit einem Fuß im Grab; er war zeitweise verwirrt, geschwächt, hatte Lungenentzündung, Lähmungen der inneren Organe (29. September 1896), und – dies war das bedeutendste Anzeichen – all das ereignete sich zeitnah zu einem verhängnisvollen und schicksalhaften Datum. Wir erinnern uns, dass Freud mit Fließ die seltsame Begeisterung für Daten, Zyklen und Zahlen teilte. So erklärte sich, weshalb der Tod zu einem bestimmten Datum
eher eintreten würde als zu einem anderen. Im folgenden Brief (9. Oktober 1896) äußerte sich Freud kühl über einen möglichen Besuch bei seinem Freund in Berlin: »Der Zustand meines Alten wird meine Teilnahme wahrscheinlich auf das mindeste einschränken.« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 211)
Tatsächlich starb der »Alte« in der Nacht des 23. Oktober 1896. Freud war damals vierzig Jahre alt. Der Vater der Psychoanalyse schrieb über den Tod des eigenen Vaters: »Er hatte sich wacker gehalten bis zum Ende, wie er überhaupt ein nicht gewöhnlicher Mensch war. Zuletzt muß er Meningealblutungen gehabt haben, Anfälle von Sopor mit unerklärtem Fieber, Hyperästhesie, Spannungen, aus denen er dann fieberlos erwachte. An den
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