Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Sollte er Garibaldi sein? Sollte er die Magyaren triumphal vereinigen? Der Sohn interpretierte das Bild des stehenden, von Menschen umringten Vaters als Hinweis auf die Vergänglichkeit eben dieser Situation; so kam er einige Zeilen später auf einen anderen Vater zu sprechen, bei dem sich eine postmortale Stuhlentleerung ereignet hatte. Oder bedeutet der Traum, dass der Vater zwar ein Held sein darf, aber nur post mortem? Das jedenfalls wäre meine These.
Zusammenfassend heißt das: Dieses dicke Buch mit wissenschaftlichem Anspruch gründet in einer autobiographischen Selbstbeobachtung. Die subjektive Interpretation von Träumen und einigen vom Autor für bedeutsam erachteten Kindheitserlebnissen ist die einzige Anwendung einer Methode, die als evidenzbasiert gelten will. Die Beweisführung fußt ausschließlich auf dem autobiographischen Gehalt; zugleich dienen alle Interpretationen der
Glorifizierung des Interpreten. Die Selbstanalyse hat einen großen Anteil an den vorgeblich klinisch fundierten Darstellungen, und die literarische Psychologie des Autors drängt die wissenschaftliche Psychoanalyse in den Hintergrund.
Diese Tatsachen liefern nützliche Erkenntnisse für unsere Psychographie: Der Erfinder der Psychoanalyse litt an starken neurotischen Beschwerden mit handfesten Symptomen. Weil er seine Träume selbst deutete, fielen die Interpretationen parteiisch aus, und dennoch beanspruchte er für seine Analysen Objektivität. Die Selbstanalyse führte unweigerlich zu einer Selbstrechtfertigung und machte einen großen Bogen um das Schlangennest namens Psyche.
Die Zusammenschau der Texte, Briefe, Analysen, Biographien und des Gesamtwerks führt zur dunklen Quelle von Freuds Psychoneurose: dem Hass auf den Vater, der als erniedrigter und andere erniedrigender Mensch erscheint, als Kastrator, dessen Größe sich nie so deutlich zeigte wie in seinem Tod, und auf Freuds Mutter, die er sexuell begehrte, mit der Mutter-Erde Rom identifizierte – mit einer Stadt also, in die er eindringen wollte, was ihm aber nicht gelang, und als es ihm schließlich doch gelang, war dies der schönste Tag seines Lebens. Diese Pathologie hatte keinen Namen, bis Freud sie Ödipuskomplex taufte und ein universelles Krankheitsbild daraus machte. Dabei hatte er nur ein Ziel: mit seiner Krankheit nicht mehr allein zu sein.
II.
Die Mutter, das Gold und Sigmunds Eingeweide
»Sollte meine Größensehnsucht
aus dieser Quelle stammen?«
Sigmund Freud, Die Traumdeutung
(Bd. II/III, S. 198)
Die große Bedeutung, die Freuds Mutter im Leben ihres Sohnes spielte, lässt sich auch daran ablesen, dass er in seinem Werk kaum von ihr sprach. In keinem theoretischen Text erwähnte er ihren Tod. Im Gegensatz zum Tod des Vaters diente der Tod der Mutter nicht zur Untermauerung von Argumenten. Auch sonst erwähnte Freud keine Details über die Mutter. Und doch steht sie im Zentrum eines Traums aus der Rubrik »Angsttraum«, in dem auch Männer mit Vogelschnäbeln auftreten.
Freud spricht davon, lange keinen Angsttraum mehr gehabt zu haben, sich jedoch an einen Traum aus der Kindheit erinnern zu können. Er war damals sieben oder acht Jahre alt; er deutet den Traum also dreißig Jahre später. Nebenbei bemerkt: Erlebnisse, Seelenqualen, Begierden und andere psychische Kräfte, welche die seelischen Magnetfelder verändern, können die Erinnerung an einen Traum binnen dreißig Jahren natürlich beeinflussen. Das Material, mit dem der Wissenschaftler hier arbeitete, war also nicht besonders frisch, auch wenn der Autor uns anvertraut, der Traum sei »sehr lebhaft« gewesen ( Der Angsttraum, Bd. II/III, S. 589). Wir werden gleich sehen, wie das gemeint war.
Der Traum zeigte also »die geliebte Mutter […] mit eigentümlich ruhigem, schlafendem Gesichtsausdruck« (ebd.). Amalia wurde von zwei oder drei Personen mit Vogelschnäbeln ins
Zimmer getragen und auf das Bett gelegt. Zunächst erinnerten die Kreaturen an den ägyptischen Gott Horus, Sohn von Isis und Osiris. Um den Tod des Vaters Osiris zu rächen, zog Horus gegen seinen Onkel in den Krieg und bestieg schließlich den Thron Ägyptens. Deshalb ging Horus als Rächer des Vaters in die Mythologie ein. Freud, der als Rächer des Vaters in multiplizierter Gestalt auftritt, die Mutter ins Schlafzimmer trägt und auf das Bett legt – ein plausibles Szenario.
Freud schlug eine andere Deutung vor. Zwar benannte er den Gott mit dem Falkenkopf nicht, doch er glaubte, ihn aus den
Weitere Kostenlose Bücher