Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
friedliche Gesichtsausdruck der Mutter scheint nicht zu dem röchelnden, komatösen, im Sterben liegenden Großvater zu passen, auf den Freud verweist. Der Gesichtsausdruck des Sterbenden steht im Widerspruch zu dem »eigentümlich ruhige [n], schlafende[n] Gesichtsausdruck« ( Der Angsttraum, Bd. II/III, S. 589) der »geliebten Mutter« (ebd.). Freuds Wortwahl passt eher zur Ruhe nach einem sexuellen Akt als zum Leid eines Sterbenden. Wieso sollten die Vögel für den Tod und nicht für das Leben stehen, wenn nicht aus Freuds Bedürfnis heraus, alles lieber zu sehen als eine durch die Beziehung zum Stiefsohn sexuell befriedigte Mutter? Dies war Freud sicher unerträglich, und zwar nicht aus Scham oder moralischen Gründen, sondern weil es sein innigster Wunsch war, den Platz des Halbbruders Philipp einzunehmen. Was spricht gegen diese Lesart? Mein Märchen ist genauso gut wie jedes andere.
Das Durcheinander im Stammbaum der Familie könnte dem jungen Freud Probleme bereitet haben. Davon kann sich jeder selbst ein Bild machen: Der Vater unseres Konquistadoren, Jakob
Freud, war in erster Ehe mit einer Frau namens Sally verheiratet. Mit ihr hatte er zwei Kinder. Er hatte mit sechzehn Jahren geheiratet, war mit siebzehn zum ersten Mal Vater geworden und mit dreiunddreißig verwitweter Vater zweier Söhne. Einer von ihnen hieß Philipp. Jakobs zweite Frau hieß Rebecca. Über sie ist wenig bekannt, denn sie starb schon kurz nach der Hochzeit. Jakob Freud heiratete zum dritten Mal und bekam mit seiner Frau Amalia am 6. Mai 1856 den Sohn Sigismund – der Name allein versprach eine große Karriere. Bei der Geburt seines Sohnes war Jakob einundvierzig, Amalia einundzwanzig Jahre alt. 1857 wurde ein zweiter Sohn geboren, der schon nach sieben Monaten starb. Aus einem Brief Freuds an Fließ haben wir bereits erfahren, dass Freud die Geburt seines kleinen Bruders mit gemischten Gefühlen wahrnahm und ihm sein Tod als wahre Erleichterung erschien. 1858 bekam Sigmund Schwester Anna. Bekanntlich nannte Freud so auch eine seiner Töchter, die zu seinem Schatten werden sollte. Wir wissen auch, dass Freud in Die Traumdeutung über die Entwicklungschancen eines unter den Geschwistern bevorzugten Kindes spekulierte. Zu all diesen Kindern gesellten sich zwischen 1860 und 1866 noch weitere; zuletzt hatte Jakob zehn Kinder aus drei Ehen.
Der Altersunterschied von zwanzig Jahren zwischen seinem Vater und seiner Mutter beschäftigte Freud als Kind sehr. Zusätzlich verwirrte ihn, dass seine Mutter nur ein Jahr älter war als sein Halbbruder Philipp. Und: Der ältere Sohn aus Jakobs erster Ehe, Emanuel, war älter als Freuds Mutter Amalia. Wessen Mutter, Gattin, Schwester, Frau, Partnerin und Geliebte war seine Mutter bloß? Oder, trivialer gefragt: Mit wem schlief sie? Mit Jakob, dem alten Herren? Oder mit Philipp, dem jungen, gleichaltrigen Mann, der jedoch zugleich ihr Stiefsohn und Sigmunds Halbbruder war? Oder gar mit Emanuel, ihrem anderen Stiefsohn, der aber älter war als sie? Bei einem kleinen Jungen kann diese seltsame Familienkonstellation sicherlich zu Identitätsproblemen führen.
Ehen, Scheidungen, der Witwerstatus, erneute Hochzeiten, Mutterschaft, eine Patchworkfamilie, Hausgeburten, ein alter Vater und eine junge Mutter – all dies wirkte auf Sigmund ein. Emanuel zeigte ihm, dass die Familie sich aus drei Generationen zusammensetzte: Jakob hätte Sigmunds Großvater sein können, doch er war sein Vater. Phillip hätte Amalias Ehemann oder Geliebter sein können, doch er war ihr Stiefsohn. Jakob hätte Amalias Vater sein können, doch er war ihr Gatte. Emanuels Sohn war ein Altersgenosse Sigmunds und zugleich dessen Onkel.
Der junge Freud reagierte auf diese Familienkonstellation mit Verunsicherung. Davon zeugt eine Anekdote aus der Psychopathologie des Alltagslebens: Freud hatte sein drittes Lebensjahr noch nicht vollendet – so wenigstens glaubte er sich zu erinnern – und stand weinend vor einem Kasten, dessen Tür sein zwanzig Jahre älterer Halbbruder festhielt. Wollte er den Kasten öffnen oder schließen? In diesem Moment kam Freuds Mutter »schön und schlank« hinzu ( Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Bd. IV, S. 58). Freud hatte diese Erinnerung mit dreiundvierzig Jahren bewusst wachgerufen und deutete sie zunächst als Hinweis auf eine Hänselei seines Bruders.
Tatsächlich verhielt es sich jedoch anders: Sigmund war durch die Abwesenheit der Mutter verängstigt und glaubte, Philipp habe
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