Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Psychoanalytiker heraus.
Mathilde stand also im Zeichen Breuers beziehungsweise dessen Frau; ihr Vorname ist eine eindeutige Hommage. In der Zeit, als sie geboren wurde, kümmerten sich Breuer und seine Frau wie Ersatzeltern um sämtliche Bedürfnisse des mittellosen Freud. Breuer bot Freud nach gemeinsamen Arbeitstagen sogar die Benutzung seiner Badewanne an oder einen Platz am Familientisch. So war Mathilde für Freud mit einer Vergangenheit verbunden, von der er sich eigentlich befreien wollte, und ihre Biographie zeugt von jenem Hass, den Freud sein Leben lang für Breuer empfand. Aus diesem Hass heraus schuf er seine eigene Version der Geschichte, der zufolge Breuer zwar etwas Entscheidendes aufgespürt hatte, nämlich die sexuelle Ätiologie der Neurosen, es ihm jedoch an Mut fehlte, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Ältere war zu schwach für die große Aufgabe, den neuen Kontinent zu erkunden, den Freud entdeckt hatte, und nur Freud selbst brachte den Mut dazu auf. So beging Freud seinen ersten Vatermord.
Freuds zweites Kind wurde am 7. Dezember 1889 geboren. Der Sohn bekam den Namen Jean-Martin, eine Hommage an Charcot. Freud studierte mit einem Stipendium in Paris und untersuchte die Histologie von Kinderhirnen. Um in Charcots inneren Zirkel vorzudringen, schlug er ihm vor, den dritten Band von dessen Neuen Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere der Hysterie zu übersetzen. Das Engagement zahlte sich aus; von nun an zählte Freud zu Charcots engsten Mitarbeitern.
In vielen Briefen berichtete er seiner zukünftigen Frau von Charcots faszinierenden Vorträgen in der Salpêtrière. Sie waren wie gesellschaftliche Ereignisse mit vielen Zuhörern und Fotografen, bei denen sich hysterische Szenen abspielten und Geisteskrankheiten wie auf einer Bühne präsentiert wurden. Der Meister führte Hypnosen vor und improvisierte Diagnosen, und es hatte den Charakter psychiatrischer Messen. Freud, der bei den Veranstaltungen
selbst nicht untätig war, verglich seine Empfindungen sogar mit dem Gefühl Adams, dem Gott auftrug, den Tieren Namen zu geben. Freud sah sich also von seinem Gott in Adam verwandelt.
Wenn man mit neunundzwanzig Jahren Gott höchstpersönlich begegnet ist, mit fünfzig hochrangigen Gästen bei ihm zu Besuch war, wenn man sich vorher mit Kokain vollgepumpt hat, um dort eine gute Figur zu machen, und wenn man überlegt, die Tochter jenes berühmten Mannes zu heiraten, der einen zum Adam machte, dann muss man diesem Gott einfach die Ehre erweisen und ihm folgen. Weit weg von seiner Verlobten und in direktem Kontakt mit Charcot, den er ohne zu zögern mit Gott verglich, wandte Freud sich von der Neurophysiologie ab und widmete sich der Behandlung von Geisteskrankheiten. Schluss mit den Keimdrüsen der Aale – von nun an kümmerte Freud sich um das Unbewusste.
Zurück in Wien wollte Freud weiterhin von Charcots Aura profitieren. Er hielt Vorlesungen über dessen Einsatz der Hypnose bei der Behandlung von Hysterie – einem nicht klar definierten Krankheitsbild, unter dem eine Reihe heterogener Pathologien subsumiert wurden. Außerdem kaufte er eine Lithographie von André Brouillets berühmtem Gemälde Une leçon clinique à la Salpêtrière – von dem noch die Rede sein wird – und hängte es in seiner Praxis auf, ganz in der Nähe eines vom Meister höchstselbst signierten Fotos. Wie dieser begann er, antike archäologische Fundstücke zu sammeln. Und er schickte dem Professor und dessen engstem Schülerkreis Abdrucke seiner ersten Veröffentlichungen.
So stand das Neugeborene mit dem Namen Jean-Martin für jenen Teil der Vergangenheit seines Vaters, in dem dieser sich von der Physiologie, der Anatomie und der Laborarbeit wie auch der Neurologie (und mithin der Aalforschung) abgewandt hatte und sich fortan der Magnettherapie, der Behandlung durch Hypnose, der Erforschung der Hysterie und einer Karriere als Psychopathologe
widmete, die schließlich zur Einführung der Couch führte. Die Geburtsanzeige seines Sohnes, die Freud Charcot schickte, beantwortete dieser, ohne auf die Namensverwandtschaft einzugehen. Stattdessen gab er seiner Hoffnung Ausdruck, der Name stelle den ersten männlichen Nachkommen unter den Schutz des Evangelisten Johannes und des Heiligen Martin, der die Hälfte seines Mantels einem frierenden Bettler gegeben haben soll. Für einen Juden ist diese explizit katholische Referenz doch sehr seltsam!
Am 19. Februar 1891 wurde das
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