Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
dritte Kind geboren: Oliver. Nun wechselte Freud das Register. Er huldigte weder seinem ersten Lehrer, der auch eine Art Ersatzmutter gewesen war, noch dem Gottvater Charcot, über den er sagte: »[D]aß kein anderer Mensch je ähnlich auf mich eingewirkt hat, weiß ich gewiß.« (Brief an Martha Bernays, 24. November 1885, Briefe 1873–1939, S. 189) Von den Lebenden war Freud mittlerweile enttäuscht; von den Toten nicht in diesem Maß. So richtete er seinen Blick auf Oliver Cromwell. Diese politische Referenz wird von keinem Autor, der sich mit Freud beschäftigt hat, je erwähnt. Tatsächlich finden sich darin jedoch Indizien, welche der Legende vom apolitischen, aber liberal-demokratischen Juden Freud widersprechen.
Denn Oliver Cromwell war bei Weitem kein Liberaler oder Demokrat. Der exaltierte puritanische Calvinist befehligte eine Armee von gleichgesinnten Fanatikern, mit deren Hilfe er einen gnadenlosen Krieg gegen die katholischen Machthaber führte. Nach vielen Schlachten und einer Säuberung des Parlaments bildete er eine Regierung und rief die Republik aus. Er massakrierte zahlreiche irische Katholiken und konfiszierte deren Besitztümer. Aufstände ließ er blutig niederschlagen, er löste das Parlament auf und regierte despotisch. Er war ein Puritaner, Kriegsherr, Despot und Massenmörder. Hundertfünfzig Jahre vor der Französischen Revolution ließ er König Karl I., den Repräsentanten
Gottes auf Erden, enthaupten. Welch seltsames politisches Vorbild für Freuds kleinen Sohn!
Freud selbst lieferte in der Traumdeutung einen Grund für die Namenswahl. Hier sprach er von seinem »zweiten Knaben, dem ich den Vornamen einer großen historischen Persönlichkeit gegeben habe, die mich in den Knabenjahren, besonders seit meinem Aufenthalte in England, mächtig angezogen. Ich hatte das Jahr der Erwartung über den Vorsatz, gerade diesen Namen zu verwenden, wenn es ein Sohn würde, und begrüßte mit ihm hoch befriedigt schon den eben Geborenen. Es ist leicht zu merken, wie die unterdrückte Größensucht des Vaters sich in seinen Gedanken auf die Kinder überträgt« ( Die Traumarbeit, Bd. II/III, S. 450).
»Unterdrückte Größensucht«? Dieses Eingeständnis passt nicht zu der glänzenden Legende. Doch wie fast immer verbirgt sich hinter Freuds Wortwahl eine zusätzliche Information – in diesem Fall seine Faszination für die Enthauptung eines katholischen Königs, die nichts anderes ist als eine Variation des Vatermords.
Das vierte Kind kam am 6. April 1892 zur Welt und wurde Ernst genannt. Mit diesem Namen wandte Freud sich wieder den Lebenden und den Lehrmeistern zu. Diesmal war Ernst Brücke an der Reihe, sein Physiologielehrer, in dessen Labor er von 1876 bis 1882 gearbeitet hatte. Brücke war vierzig Jahre älter als Freud, Lehrstuhlinhaber für Physiologie in Wien und gilt als Begründer der Histologie. Er stand Juden liberal und positiv gegenüber und hatte Freud und Breuer bekannt gemacht. Er war zurückhaltend und verfügte doch über eine natürliche Autorität. Der Kunstliebhaber, Hobbymaler und positivistische Forscher nahm Freud in seine Arbeitsgruppe auf, wo dieser zunächst über die Sexualität von Ammocoetes petromyzo n aus der Familie der Neunaugen und später über die Anatomie des menschlichen Gehirns forschte.
Freud bezeichnete Ernst Brücke einmal als die größte »Autorität, die je auf mich gewirkt hat« (Nachwort zur Frage der Laienanalyse,
Bd. XIV, S. 290). Wer um Freuds Unfähigkeit weiß, ein Lob ohne unmittelbar darauf folgende Relativierung auszusprechen, kann die Bedeutung dieses Eingeständnisses ermessen. Nach dem Quasi-Gott Charcot begegnen wir hier dem Quasi-Vater Brücke. 1878 lernte Freud Brücke kennen. Änderte er deshalb im gleichen Jahr seinen Namen von Sigismund – Mutters Gold-Sigi – in Sigmund? Wir werden es wohl nie erfahren.
In »Selbstdarstellung« gedachte Freud »des warmen Fürspruchs Brückners« (Bd. XIV, S. 37) im Zusammenhang mit seinem Stipendium für das Studium bei Charcot in Paris. Andererseits schrieb er am 3. Juni 1885 an Martha, sein Mentor habe sich hinsichtlich des Stipendiums nicht genug Mühe gegeben. Die private Kritik kontrastiert mit dem für die Nachwelt aufgeschriebenen Lob. Freud schien sich seinem Lehrer – so sagte er es auch selbst – wie einem Vater unterworfen zu haben.
Im Rahmen der Interpretation eines Traums taucht Brücke auf, als es um eine Verspätung geht. Freud berichtet, er habe während seiner
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