Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Zeit in Brückes Labor die anatomischen Sektionen vorbereiten müssen. Dabei sei er manchmal zu spät gekommen. Eines Tages habe Brücke seine Verspätung lakonisch kommentiert. Was Brücke sagte, verschweigt der Text, aber für Freud war der Blick viel bedeutsamer: »Das Überwältigende waren die fürchterlichen blauen Augen, mit denen er mich ansah, und vor denen ich verging« ( Die Traumarbeit, Bd. II/III, S. 425).
Die Deutung, die Freud diesem Traum über Brücke gab, weist in eine seltsame Richtung. Im Traum sah er sich selbst seziert und in zwei Teile gespalten daliegen, Beine und Becken waren entfernt; er hatte also kein Geschlechtsteil. Er half Bücke dann beim Präparieren des eigenen Körpers, ohne dabei Schmerzen zu verspüren. Freud, der sonst überall Sexuelles vermutete, sah es gerade dort nicht, wo es offensichtlich war: Brücke, den er als väterliche Autorität betrachtete, befahl ihm eine anatomische Sektion, die einer Kastration gleichkam. Doch Freud verstand den Traum eher als Symbol für – die Selbstanalyse! Wir erinnern uns,
dass nach Freuds eigenem Bekunden der Tod seines Vaters im Jahr 1896 das Bedürfnis nach einer Selbstanalyse ausgelöst hatte.
Sophie wurde am 12. April 1893 geboren. Es wäre denkbar, dass Freud mit ihrem Namen auf die Weisheit anspielen wollte. Doch wir wissen um seine Abkehr von den Philosophen im Bestreben, als Wissenschaftler zu erscheinen. Sophie als Hommage an die Disziplin Platons, Schopenhauers und Nietzsches wäre dem Zugeständnis einer verdrängten Begierde gleichgekommen – und das bei einem Mann, der sich in einer Reihe mit Kopernikus und Darwin sah. Undenkbar.
Jones zufolge verdankt Sophie ihren Namen einem Freund vom Physiologischen Institut, Professor Samuel Hammerschlag, der Freud am Gymnasium mit der Bibel und dem Hebräischen vertraut gemacht hatte. Jones zitiert Freud mit der Einschätzung, dieser Mann sei wie ein Vater für ihn gewesen (Jones, Sigmund Freud – Leben und Werk, Bd. I, S. 198). Hammerschlag hatte eine Nichte mit dem Namen Sophie. Man weiß nicht, ob er ein guter Lehrer war, aber da Freud 1930 ein Buch eines jüdischen Autors erhielt und eine Übersetzung für das einfache hebräische Vorwort benötigte, scheint er wohl kein guter Schüler gewesen zu sein – oder Hammerschlag kein guter Lehrer. Doch auch in dieser Frage könnte Verdrängung eine wichtige Rolle gespielt haben.
Wie dem auch sei, der Jude Freud heiratete zwar kirchlich, doch er untersagte religiöse Praktiken in seinem Haus – sehr zur Enttäuschung seiner Frau Martha, der Tochter des Hamburger Oberrabbiners. Sie hätte die Traditionen gern in ihrer Familie fortgesetzt, doch Freud verbot ihr dies rigoros. Mit fünfundsiebzig Jahren hatte der aus einer chassidischen Familie stammende Jakob Freud seinem damals fünfunddreißigjährigen Sohn eine Bibel geschenkt – ein Erbstück seines Vaters mit einer hebräischen Widmung. Auch diese konnte Sigmund nicht entziffern.
Um dem Wunsch des jüdischen Vaters nachzukommen, der
sich in dessen Bibelgeschenk andeutete, untersagte Freud die Beschneidung seiner Söhne, Synagogenbesuche, Religionsunterricht, religiöse Rituale zu Hause und die private Frömmigkeit seiner Frau. In der Berggasse 19 feierte man Weihnachten mit einem Tannenbaum, an Ostern wurden Eier bemalt. Freud selbst gestattete sich 1897 jedoch den Beitritt zu der liberalen jüdischen Organisation B’nai B’rith, deren Wiener Loge zwei Jahre zuvor gegründet worden war.
Doch wie so oft zeigte sich Freud im Schatten des Vaters ambivalent: Er trat der Loge bei, engagierte sich für die Universität von Jerusalem, überwand im Angesicht der nazistischen Judenverfolgung in Europa seinen in der Jugend gepflegten Antizionismus und schloss einen jüdischen Staat nicht mehr aus. Zugleich jedoch legte er in Der Mann Moses und die monotheistische Religion dar, Moses sei kein Jude, sondern Ägypter gewesen; er erklärte Gott für unmöglich und alle Religionen zu »Zwangsneurosen«. Er wollte kein Jude sein und spekulierte doch darüber, ob der Widerstand gegen seine Theorien nicht in einem verborgenen ausgeprägten Antisemitismus gründete – gegen den er sich zu schützen versuchte, indem er den »Arier« C. G. Jung zu seinem Erben erklärte, bevor er sich von ihm distanzierte.
Freud glaubte, diese Widersprüche vereinen zu können. Am 6. Mai 1926 verkündete er den Mitgliedern der B’nai-Brith-Loge seine »klare Bewußtheit der inneren Identität, die
Weitere Kostenlose Bücher