Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
und Ängste nahm. »Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wißbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige
Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nie ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden.« (ebd., S. 352 f) In Gott kann jeder seine Beziehung zum Vater reaktivieren. Für Freud war der Atheismus deshalb eine existentielle – und somit auch theoretische – Notwendigkeit.
Dort, wo Freud am stärksten gegen die Religion wetterte, betonte er auch, dass ihre Aufrechterhaltung eine größere Gefahr für die Kultur darstelle als ihre Abschaffung. Zwar wusste er, dass gerade die Künste und die Literatur der Religion durch das Phänomen der Sublimierung viel zu verdanken haben, hält sie doch unsere potentiell schädlichen Triebe im Zaum. Er wusste aber auch, dass für diesen Verdrängungsprozess ein hoher Preis bezahlt werden muss, nämlich der zahlreicher individueller und kollektiver Geisteskrankheiten. Aus diesem Grund hielt Freud die Religion für gescheitert: Sie hatte sich als unfähig erwiesen, die Menschen glücklich zu machen und ihnen Trost und Frieden zu bringen. Sie hatte die Menschen nicht mit dem Leben versöhnt, sondern sie dazu gebracht, sich erst recht von ihm abzuwenden. Freud glaubte nicht, dass die Religion zu mehr Moral bei den Menschen führen oder Grausamkeit, Übel und Kriege verhindern könnte. Und so war es aus seiner Sicht auch nicht nötig, sie weiterhin zu verteidigen. Die Religion hatte nach und nach ohnehin an Bedeutung verloren und spielte im Alltag vieler Menschen eine immer geringere Rolle. Kaum jemand glaubte noch an ihre Versprechungen. Zudem machte der Fortschritt in den Naturwissenschaften die religiösen Erklärungsansätze obsolet.
Die Elite glaubte nicht mehr an die Märchen, doch die Masse der Ungebildeten und Unterdrückten hielt weiter an den schönen Illusionen fest. Was also war zu tun? Freud kannte die Antwort: Eines Tages würde die Masse erfahren, dass die Elite nicht mehr an Gott glaubte, wobei das Risiko bestünde, dass die religiöse Legitimation der Moral verschwände und das Tötungsverbot nicht mehr auf der wirkungsvollen Angst vor göttlicher Strafe,
sondern nur noch auf der relativen Angst vor menschlichen Konsequenzen ruhen würde. Daraus ergäben sich zwei Möglichkeiten: Entweder die Politik verbiete der Masse die Religionskritik, oder Kultur und Religion müssten in ein neues Verhältnis zueinander gebracht werden.
Die zweite Möglichkeit setzte für Freud einen Bruch mit der theologischen Genealogie von Recht, Gesetz, Moral, Kultur und Gesellschaft voraus, der mittels einer psychoanalytischen Genealogie zu erreichen sei. Man müsse zunächst aufhören zu glauben, Gott entscheide über Gut und Böse oder verlange uns ein bestimmtes Verhalten ab, das er belohne oder bestrafe. Dann müsse man den in Totem und Tabu entwickelten Thesen über die Macht des Stammesvaters, den Vatermord und die Gewissensbisse der Söhne Glauben schenken, die zur Konstruktion eines Gesetzes zur Manifestation der Macht des toten Vaters führten. Dann wäre das Verbot von Mord und Inzest nicht aus religiösen, irrationalen und neurotischen, sondern aus psychoanalytischen und mithin wissenschaftlich-rationalen Motiven heraus zu begründen.
In der sogenannten normalen Entwicklung eines Kindes ist die Neurose laut Freud notwendig, weil sie ihm ein Schema liefert, mit dem es die Entwicklung der Gesellschaft – die selbst ein neurotisches Stadium durchläuft – besser verstehen kann. Freud hielt die Religion für eine »allgemein menschliche Zwangsneurose« (ebd., S. 367) und wollte mit dieser »halluzinatorischen Verworrenheit« (ebd.) aufräumen. So erklärte er Gott für tot.
Wir erinnern uns, dass Freud das Bild Gottes als »eines großartig erhöhten Vaters« ( Das Unbehagen in der Kultur, Bd. XIV, S. 431) gezeichnet hatte, und begreifen vor diesem Hintergrund, weshalb er in die philosophischen Fußstapfen Feuerbachs und mehr noch Nietzsches trat, des Autors der berühmten Wendung »Gott ist tot« und des Antichrist, in dem dieser den Bruch mit der kranken und neurotischen jüdisch-christlichen Gesellschaft propagierte. Die Zukunft einer Illusion, Das Unbehagen in der
Kultur und Der Mann Moses und die monotheistische
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