Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
mit dem oder der er sich identifizierte. Der Totem wurde weder zerstört noch gegessen. Er war erblich, folgte aber nicht den Kriterien der Blutsverwandtschaft, sondern komplexen Strukturen, die den gesamten Stamm betrafen. Die Totemgenossen durften nicht untereinander heiraten, weil Totemismus und Exogamie zusammengehörten. Die Überschreitung dieses Verbots wurde mit dem Tod bestraft. Der Totem wurde über die Mutter vererbt und änderte sich auch mit einer Heirat nicht.
Elternschaft wurde über die Beziehung eines Individuums zu einer Gruppe definiert. Vater war nicht zwingend der Erzeuger, sondern jeder, der als Vater infrage kam; das Gleiche galt für Mütter, Brüder und Schwestern. Elternschaft hatte also nichts mit Blutsverwandtschaft zu tun, sondern mit symbolischen, imaginären Beziehungen. Kinder begriffen sich auch dann als Brüder und Schwestern, wenn sie nicht dieselbe Mutter hatten, denn die
Verwandtschaftsbezeichnungen stammten aus Gruppenehen, wobei die Kinder in individuellen Ehen geboren wurden.
Eine bestimmte Anzahl von Männern übte eheliche Rechte über eine gewisse Anzahl von Frauen aus und das Inzestverbot bezog sich auf Sex innerhalb der Gruppe. Freud untersuchte einige Rituale der Distanzierung von Sohn und Mutter, Bruder und Schwester, Cousin und Cousine, deren Ziel es war, die Sexualität aus der Gruppe zu verbannen. Darüber hinaus überprüfte er Distanzierungsrituale von Schwiegermüttern und Schwiegersöhnen. Für ihn war dies bekanntlich ein biographisch behaftetes Thema – erinnern wir uns an seine Schwärmerei für die Mutter seiner Jugendliebe Gisela.
Freud schloss aus seinen Untersuchungen, dass die Inzestangst bei den Wilden Gemeinsamkeiten mit den Neurosen aufweise. Dem Psychoanalytiker hätte nicht viel zu der These gefehlt, nur Wilde, Kinder, Neurotiker und Geisteskranke hielten sich an das Inzestverbot innerhalb der Familie, während geistig gesunde Erwachsene, eventuell mit Wohnsitz in Wien, dieses ohne größere Schwierigkeiten übertreten könnten.
Nach der Analyse des Totemismus beschäftigte sich Freud mit den Zusammenhängen zwischen Tabu und Verbot. Totem und Tabu nahm in Freuds Denken den Platz ein, den die Genealogie der Moral bei Nietzsche hatte: Freud entdeckte hier den Schlüssel zur Entstehung der Zivilisation, der Kultur, Moral, Sitten, Religion, Kunst, Philosophie und allen anderen denkbaren kulturellen Ausformungen. Eine Art ontologisches Sesam-öffne-dich. »Grundlage des Tabu ist ein verbotenes Tun, zu dem eine starke Neigung im Unbewußten besteht.« ( Totem und Tabu, Bd. IX, S. 42) Ein Mysterium! Ein verbotenes Tun? Welches? Eine starke Neigung zum Verbotenen? Und all dies im unergründlichen Unbewussten? Freud machte die Sache spannend: Jedes Tabu entspringt einem wichtigen Verbot, das in den Tiefen der Psyche verborgen ist.
Freud war ein begeisterter Leser, und besonders mochte er ethnologische
Untersuchungen. Er fasste also die bislang existierenden Thesen über das Tabu zusammen und kam zu dem Schluss, dass weder die nominalistischen noch die soziologischen oder psychologischen Ansätze hier ausreichten. Nur die Psychoanalyse könne das Thema zur Gänze ergründen. Niemand vor ihm, so glaubte er, konnte Phänomene wie Totem, Tabu, Animismus, Verbot, Magie, Elternschaft, Endo- und Exogamie, Inzest- oder Mordverbot so gut verstehen, und zwar einfach deshalb, weil niemand vor ihm den Stein der Weisen entdeckt hatte – den Ödipuskomplex.
Wie konnte er sich dessen so sicher sein? Ganz einfach, er berief sich auf den – mehr Freuds blühender Fantasie denn seinem Genie als Forscher entsprungenen – »wissenschaftlichen Mythos« über den Vatermord in der Urhorde. Freuds mythologischer Text liest sich so: »Ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt« (ebd., S. 171) – derlei hatte natürlich niemand beobachten können, aber Freud präsentierte es als Faktum, ohne Beweise anzuführen. Weiter heißt es: »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.« (ebd.) Auch dies ist nicht zu beweisen, doch es konnte gar nicht anders sein, denn Freud hatte es so geschrieben. Und es ging weiter: »Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich. Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der
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