Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Religion sind letztlich Instrumente für den Vatermord.
Die Argumentation in Das Unbehangen in der Kultur (1930) ähnelt jener in Die Zukunft einer Illusion (1927). Beide Werke leiten die Entstehung der Gesellschaft aus der Triebverdrängung her, also aus der genealogischen Frustration individueller und sozialer Pathologien. Gott und die Religion werden als zweitrangige Ausprägungen infantiler Logik dargestellt. Und Freud führt seine Theorie des Vatermords weiter aus: Von Natur aus seien wir alle Hedonisten, ständig auf der Suche nach Triebbefriedigung und dem damit einhergehenden Spannungsabbau und Lustgefühl. Die Kultur zwinge uns zur Verdrängung der Lust zugunsten der Wirklichkeit, die sich wiederum selbst aus verdrängten, sublimierten und für den Erhalt der Gesellschaft umgeleiteten Kräften konstituiere.
Welche Logik bringt uns laut Freud dazu, auf die Befriedigung unserer Triebe zu verzichten, und zwar zugunsten einer Konstruktion, die unsere Frustration festschreibt? In wessen Namen werden wir zu unseren eigenen Peinigern? Im Namen des Über-Ich, jener für die zweite Topik grundlegenden Instanz, die in Das Ich und das Es aus dem Jahr 1923 eingeführt wurde, einem Zensor, Richter oder dem Gesetz vergleichbar und eine Folge des Ödipuskomplexes ist. Das Über-Ich entsteht, wenn sich der Ödipuskomplex zurückbildet: Sobald das Kind begriffen hat, dass der Wunsch nach Vereinigung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil und nach Beseitigung des gleichgeschlechtlichen Elternteils vergeblich ist; sobald es versteht, dass es seine Libido auf andere Objekte richten muss, verzichtet es auf seine Begierden, und dieser Verzicht drückt sich in einer Verinnerlichung des Verbotenen aus.
Als die Söhne den Vater töteten, hassten sie ihn, doch der Mord löste Reue und Schuldbewusstsein aus. Freud sagte uns nicht, woher diese Ambivalenz rührte, sondern stellte sie einfach als Tatsache dar. Die frustrierten Söhne der Urhorde töteten und aßen
also den Vater und entdeckten dann, dass der verhasste zugleich der geliebte Vater war: »[N]achdem der Haß durch die Aggression befriedigt war, kam in der Reue über die Tat die Liebe zum Vorschein, richtete durch Identifizierung mit dem Vater das Über-Ich auf, gab ihm die Macht des Vaters wie zur Bestrafung für die gegen ihn verübte Tat der Aggression, schuf die Einschränkungen, die eine Wiederholung der Tat verhüten sollten.« (Das Unbehagen in der Kultur, Bd. XIV, S. 492) Das Über-Ich verkörpert demnach den Schatten des Vaters, es speist sich aus dem urzeitlichen Mord und der Erinnerung an diese Tat. So führt der Ödipuskomplex laut Freud zur Genealogie der Moral.
Jeder trage also ein Über-Ich in sich, das in enger Beziehung zum persönlichen Erleben des Ödipuskomplexes stehe. Betrachten wir das Beispiel eines Kindes mit einem schwachen, nachsichtigen Vater: Das Über-Ich würde sich nach Freud sehr streng entwickeln, weil der Vater nicht als Gegenpol fungieren und das Kind die Aggression nur gegen sich selbst richten kann. Bei einem vernachlässigten, lieblos erzogenen Kind dagegen würde die Grenze zwischen Ich und Über-Ich so stark aufgeweicht, dass die Aggression sich schließlich nach außen richten müsste. Im ersten Fall spräche man von Masochismus, im zweiten von Sadismus.
Freud behauptete: »[D]er Vater der Vorzeit war gewiß [ sic ] fürchterlich und ihm durfte [ sic ] man das äußerste Maß von Aggression zumuten.« (ebd., S. 491) Wie konnte er sich da so sicher sein? Welche Beweise hatte er? Freud sagte dazu: dass »die Verhinderung der erotischen Befriedigung ein Stück Aggressionsneigung gegen die Person hervorruft, welche die Befriedigung stört« (ebd., S. 498). Je größer also die Frustration, umso stärker das Bedürfnis, den Vater zu töten. Der Vater verkörpere demnach eine besonders große Frustration. So war sich Freud gewiss, dass der Vater aller Väter, der erste Vater, auch der schlimmste Vater gewesen sein müsse, habe er doch eine derartige Frustration bei seinen Söhnen hervorgerufen, dass sie ihn töteten. Allein durch sein Vatersein ist der Vater dieser Logik zufolge schuld am eigenen Tod.
Am Ende seiner Analyse fragte sich Freud angesichts der Existenz neurotischer Individuen, ob es auch neurotische Gesellschaften gebe. Da er aber über keine geeignete Methode verfügte, um Pathologien zweifelsfrei festzustellen, blieb er die Antwort schuldig. Eine individuelle Neurose kann von einem Psychoanalytiker diagnostiziert
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