Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Wissenschaft nach seinem Modell, einen neuen »wissenschaftlichen Mythos«, der die Existenz einer Art jüdischen Urhorde beweist? Es bleibt offen, was er meinte.
Mangels plausibler Hypothesen erlaube ich mir, selbst eine zu formulieren: Versteht man die Psychoanalyse als Privatwissenschaft, die einzig im Hinblick auf Freud verlässliche Erkenntnisse liefert, so kann man den Ödipuskomplex, der das Schicksal der Urhorde bestimmt und eine Art Matrix bildet, als persönliche, autobiographische Beschreibung seines jüdischen Vaters und seiner jüdischen Mutter sehen und damit nachweisen, dass das Judentum einen zentralen Platz in der von ihm selbst geschaffenen Lehre einnimmt.
Die letzten, schwermütigen und mysteriösen Sätze des kurzen, scheinbar harmlosen Vorworts deuten darauf hin. Denn Freud sagt, er habe die Frage des Ursprungs von Religion und Moral nie aus jüdischer Sicht betrachtet, weil er der Überzeugung gewesen sei, »daß die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann.« (ebd.) Die Psychoanalyse als Verkörperung des Geistes des neuen Judentums? Leider entwickelte Freud diesen Gedanken auch in seinen übrigen Texten nicht weiter.
Müssen wir Der Mann Moses und die monotheistische Religion demnach lesen als Versuch, die Wesensmerkmale eines solchen neuen Judentums zu bestimmen? Eines atheistischen, unreligiösen
metapsychologischen Judentums, das auf einem »wissenschaftlichen Mythos« oder einem »historischen Roman« beruht, als den Freud dieses Buch selbst bezeichnete? Geht es um eine neue Religion ohne Gott, ohne Transzendenz, die ganz in der metaphorischen Immanenz der psychischen Vorgänge existiert, von symbolischer Hermeneutik geprägt ist und ihre Gewissheiten im unsichtbaren Unbewussten findet; deren Anhänger in Träumen lesen wie früher im Talmud? Ein Gott, der vor dem Wort flieht, ein Gott der negativen Theologie, der gerade in der Abwesenheit die stärkste Präsenz hat? Warum eigentlich nicht.
Wie Hannibal und Ödipus spielte auch Moses in Freuds Selbstbeschreibung eine wichtige Rolle. 1914 veröffentlichte er Der Moses des Michelangelo, um das Rätsel zu lösen, das ihm diese Skulptur im Jahr 1901 aufgegeben hatte. Am 6. September 1901 schrieb er aus dem Urlaub mit Minna eine Postkarte an Martha: »Heute Nachmittag einige Eindrücke, an denen man Jahre lang zehren wird.« ( Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895–1923, S. 142) Dann schilderte er, wie er das Pantheon und die Basilika San Pietro in Vincoli besichtigte. Dort habe er »den Moses von Michelangelo gesehen (plötzlich durch Mißverständnis).« (ebd.) Durch Missverständnis!
Bei jedem Aufenthalt in Rom besuchte Freud täglich diese Statue. Er betrachtete, belagerte, vermaß und zeichnete sie. Für den kurzen Text von etwa dreißig Seiten benötigte er ein ganzes Jahr – und dreizehn Jahre Vorbereitungszeit! Wofür stand diese Statue? Wieso hat Moses die Finger im Bart, und wieso sind nur einige Finger sichtbar? Welcher Moment in Moses’ Leben ist in der Körperhaltung eingefangen? Ist es der Moment, in dem er die Gesetzestafeln für sein Volk zerbrechen wollte, das ein Idol umtanzte? Oder der Moment, in dem er sich schon weise dagegen entschieden und seinen Trieb unterdrückt hatte? Freud kam zu dem Schluss, Michelangelo habe Moses in dem Augenblick gebannt, als er bereits darauf verzichtet hatte, sein Volk zu bestrafen,
und die Gesetzestafeln herunterfielen und fast zu Bruch gingen.
Die Statue machte Freud sprachlos; wie angewurzelt stand er vor ihr. In einem Brief an Edoardo Weiss vom 12. April 1933 schrieb er, er habe zu ihr eine Beziehung wie zu einem »Kind der Liebe« ( Briefe 1873–1939, S. 431). Bemerkenswert ist, dass er Der Moses des Michelangelo anonym veröffentlichte und vorgab, sich mit der Analyse einen Spaß gemacht zu haben! Freud gestand also seinen peinlichen Dilettantismus ein und zweifelte an den Ergebnissen seiner Untersuchung, deren Veröffentlichung er nur auf Drängen von Freunden zugestimmt habe.
Freuds zahlreiche Absicherungen, seine demonstrative Bescheidenheit, seine Selbstzweifel und der Rückzug in die Anonymität sahen ihm gar nicht ähnlich. Außerdem griff er zu einem Trick: Er schrieb eine Notiz, mit der er sich hinter der Redaktion der Zeitschrift versteckte. Sie habe den Text aufgenommen, weil dessen Verfasser »analytischen Kreisen nahesteht« und dessen »Denkweise immerhin eine gewisse Ähnlichkeit mit der Methodik der
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